„Eine Bombe braucht Respekt“

Wenn alte Weltkriegsbomben entschärft werden sollen, muss Hans-Jürgen Weise ran – seit 32 Jahren. Besonders aufregend findet der Sprengmeister das nicht. Nach der Arbeit geht er duschen

Interview STEFAN ALBERTI

taz: Herr Weise, ist es eigentlich ein Glück, dass wir hier mit Ihnen zusammensitzen können?

Hans-Jürgen Weise: Glück, wieso?

Na ja, ein Hamburger Kollege von Ihnen sagt: „Jede Bombenentschärfung ist ein Himmelfahrtskommando“ – und Sie schalten die Dinger schon seit 32 Jahren aus.

Das zeigt, dass ich meine Arbeit verstehe, würde ich mal sagen – und dass ich tatsächlich großes Glück gehabt habe. Das fachliche Können, das Geduldige allein reicht da nicht aus.

Das auffällige rot-blaue Stoffbändchen an Ihrem linken Handgelenk soll ein Glücksbringer sein, sagt Ihr Chef.

Das sind Freundschaftsbänder, die bekomme ich von meinen beiden Enkelinnen seit sechs Jahren als Talisman. Immer wenn eins durchgescheuert ist, binden sie mir ein neues um. Die bleiben dran, solange ich Bomben entschärfe.

Sieht ein bisschen nach Wolfgang Petry aus.

Na, so lieber nicht.

Glauben Sie echt daran, dass die Bänder Ihnen helfen?

Ja. Das ist mein einziger Aberglaube überhaupt.

Haben Sie zum Aberglauben auch einen Glauben? Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Nein, glaube ich nicht, kann ich mir nicht vorstellen.

Dann müssen Sie ja mit Ihrem irdischen Leben um so vorsichtiger sein. Denken Sie oft an den Tod ?

Das war vielleicht in den ersten Jahren so, wenn ich wusste, dass wieder eine Entschärfung dran ist. Aber wenn ich erst mal direkt vor der Bombe stehe und mit der Arbeit beginne, dann denke ich da nicht dran. Wenn Sie sich hundert Prozent konzentrieren müssen, ist für andere Gedanken kein Platz.

Wie verabschieden Sie sich denn an einem solchen Tag morgens von Ihrer Frau?

Herzhaft, aber normal, nicht anders als andere auch. Meine Frau war bis kurz vor der Wende auch beim Munitionsbergungsdienst angestellt, die weiß, wie die Sache aussieht.

Umso schlimmer.

Wenn ich nach Hause komme und sage, wir haben nächste Woche eine Bombe, dann nimmt sie das zur Kenntnis. Und wenn ich dann am Morgen gehe, wünscht sie mir gutes Glück. Tränen gibt es da nicht.

Hat sie Angst?

Eigentlich nicht. Ich hab sie mal gefragt, und sie hat gesagt: „Ich weiß, was du kannst.“ Sie hat volles Vertrauen in mich, sie weiß, dass ich vorsichtig bin. Sonst würde sie wahrscheinlich sagen, ich soll aufhören.

Hat sie das mal gesagt?

Nein, nie, die ganzen Jahre nicht.

Wie viele Kollegen haben Sie in dieser Zeit verloren?

Einen 1970 auf dem Sprengplatz, einen anderen 1993 bei einer Granate. Das waren jetzt zwei in 32 Jahren – zwei zu viel, doch in anderen Berufsgruppen gibt es mehr Unfälle.

Trotzdem war es doch bestimmt ein anderes Gefühl, als sie danach zu Ihrer nächsten Bombe gegangen sind, oder?

Nach so einem Vorfall geht man natürlich ein bisschen in sich. Da war vor allem die Frage: Warum ist das passiert, was ist falsch gelaufen? Damit haben wir ein paar Tage zu kämpfen gehabt. Beim nächsten Einsatz habe ich aber nicht mehr daran gedacht. Ich glaube, ich habe das einfach verdrängt.

Wie geht denn so was?

Das können Sie mit einem Autounfall vergleichen. Da stehen Sie erst im Stau, fahren an der Unfallstelle vorbei und machen sich dabei so ihre Gedanken. Aber am nächsten Tag schon nicht mehr. Das Leben muss ja weitergehen, man muss weiterfahren, und ich muss weiter meinen Job weitermachen.

Müssen? Haben Sie nicht mal daran gedacht, aufzuhören?

Nein.

Gibt es Kollegen, die damit nicht so gut fertig werden?

Weiß ich nicht. Wir unterhalten uns selten darüber.

Ist ein Tabuthema?

Das wird einfach verdrängt. Wie gesagt: Wer denkt schon gerne daran, dass er an der nächsten Kreuzung tot sein kann, wenn er ins Auto steigt.

Reden Sie mit Ihrer Frau darüber?

Wenn ich nach Hause komme und es gab was Besonders, vielleicht auch einen Zeitungsartikel über eine Entschärfung, dann red/en wir schon mal darüber.

Haben Sie Ihre Armbänder als Schutzengel schon mal konkret nötig gehabt?

Weiß ich nicht. Das möchte ich auch eigentlich gar nicht wissen.

Wieso?

In so eine Bombe oder Granate können Sie nicht reingucken. Man hat seine Erfahrungen: Wenn du so drehst, kommt dies, wenn du so schraubst, passiert das. Bei allem muss man sich auf sein Gefühl verlassen. Und da ist wahrscheinlich schon mal ein Schutzengel dabei gewesen. Aber darüber denkt man nicht nach, sonst geht man ja das nächste Mal nicht mehr ran.

Was passiert denn, wenn das Gefühl sagt: Stopp!

Dann höre ich auf zu drehen und weiß: Hier muss ich die Bombe sprengen, auch wenn dabei Schäden entstehen. Das Bestreben ist schon immer, die Sache abzuschließen, Zünder raus, fertig. Aber unsere Devise heißt dann: Das Leben geht vor.

Zünder raus, fertig. Das liest sich immer so, als würde man da einfach einen 24er-Schraubenschlüssel nehmen, und damit hat sich das.

Von wegen. Es gibt zig verschiedene Bomben und Zünder, die muss man alle kennen, die muss man einschätzen können. Wenn man da nicht Bescheid weiß, hat man keine Chance. Und vorher muss man den Zünder erst mal mit einem Sandstrahler reinigen, sonst kommt man da mit einem Schlüssel oder einer Rohrzange nicht ran.

Und was geht dann so in Ihnen vor, wenn Sie allein bei der Bombe sind, die Anwohner evakuiert sind und auch die Kollegen erst hinter der nächsten Häuserecke stehen?

Wenn ich unten im Loch bei der Bombe bin, sind alle anderen Gedanken weg, da hab ich nur immer den nächsten Arbeitsschritt vor Augen. Das muss zügig gehen, weil der Zünder einen Mechanismus haben kann, der uns nicht viel Zeit lässt. Das Ding liegt da seit fünfzig Jahren in vier Meter Tiefe, schön gekühlt und wird plötzlich bei dreißig Grad freigelegt. Da kann die Temperaturschwankung ausreichen, um die Bombe hochgehen zu lassen. Da gibt’s nur eins: konzentrieren und an nichts anderes denken.

Überkommt Sie da nicht ein Gefühl der Einsamkeit?

Einsamkeit will ich nicht sagen, Angst auch nicht – na, vielleicht ein bisschen. Ich habe Respekt vor der Bombe, ich weiß, welche Gefahr von ihr ausgeht und was passieren könnte. Wenn der Zünder gelöst ist, dann atmet man schon durch.

Diese Bomben, die neulich in Oranienburg und Berlin entschärft wurden – was hätten die anrichten können?

Nehmen Sie mal eine 250-Kilo-Bombe, 1,36 Meter lang, 38 Zentimeter im Durchmesser. Wenn die in vier Meter Tiefe hier im märkischen Sand liegt und hochgeht, dann gibt das einen Trichter zwischen 10 und 14 Meter. Der Auswurf nach oben geht ungefähr bis zu 150 Meter hoch, und die Splitter fliegen 1.000 Meter weit.

Diese Zerstörungskraft erlebt in Friedenszeiten kaum einer so nah wie Sie. Hat Sie die Arbeit zum Kriegsgegner gemacht?

Nein. Ich war zu DDR-Zeiten nicht politisch engagiert – gut, ich war in der Partei, das war Bedingung als Sprengmeister, aber ich bin da nicht in Erscheinung getreten – und nach der Wende auch nicht. Warum auch? Ich entschärfe die Dinger – was Besseres kann ich doch gar nicht machen, um weitere Opfer zu verhindern.

Lassen Sie uns mal Ihren Arbeitsalltag mit einem Klischee ihres Berufs abgleichen: Einen Bombenentschärfer bringt nichts aus der Ruhe, der braucht den Kitzel.

Sagen wir mal so: Ich bin kein Draufgänger, auf jeden Fall kein leichtsinniger. Ich bin auch beim Autofahren kein Raser, ich habe keinen Punkt in Flensburg. Aber wenn ich was anfange, dann will ich ein Ergebnis sehen, so schnell gebe ich nicht auf. Doch den besonderen Kick brauche ich nicht. Das ist eben meine Arbeit, und die möchte ich halbwegs vernünftig hinter mich bringen.

Wenn es nur eine normale Arbeit ist, dann könnten Sie sich ja auch in den Innendienst versetzen lassen, das wäre sicherer.

Stimmt auch wieder. Die Faszination ist für mich, dass man durch eine Entschärfung oder wenn man Munition sprengt, eine Gefahr für andere Leute abwendet. Das ist schon eine besonder Dienstleistung. 264 Bomben sind es bisher bei mir.

Gibt Ihnen das ein besonders gutes Gefühl in der Brust?

Ja, und da bin ich auch ein bisschen stolz drauf.

Das kann man auf Fotos in Ihrem Büro sehen: Da stehen Sie ein paarmal neben einer entschärften Bombe wie ein Fischer neben einem Riesenfang.

Wissen Sie, wenn Sie da in einem Loch vier Stunden gearbeitet haben, unten sind sieben Grad, oben dreißig, zwanzigmal rauf und runter gelaufen sind, da sind Sie fertig. Und wenn Sie es dann geschafft haben, die rauszuholen, dann lassen Sie sich auch gerne fotografieren.

Wie entspannen Sie sich denn nach so einem stressigen Einsatz?

Ich dusche ausgiebig, setze mich dann eine halbe Stunde auf die Terrasse und rede mit meiner Frau. Und dann gehen wir meist essen. Aber schreiben Sie jetzt nicht, der feiert jedes Mal Geburtstag, weil er überlebt hat. So ist das nicht. Das hat man sich einfach verdient nach so einem Tag.

In Bremen hat ein Kollege von Ihnen das Bundesverdienstkreuz bekommen. Hat sich das Land hier auch mal mit einem Orden erkenntlich gezeigt?

Sprengmeister mit Bundesverdienstkreuz gibt es in allen Bundesländern – außer bei uns in Brandenburg, da gibt es nichts.

Auch nicht eine schlichte Medaille oder einen Silberteller?

Da kenne ich keinen, der was bekommen hätte, in keiner Weise. Der einzige Dank war mal ein Händedruck von Stolpe, als er noch Ministerpräsident war. Da durften wir zehn Minuten mit ihm reden, und einen Apfelsaft gab’s auch noch.

Wenn schon keine Orden: Was ist Ihr Leben dem Land in Euro wert? Was verdienen Sie?

Erst mal weniger als in den westlichen Bundesländern – unsere Bomben sind wahrscheinlich nicht ganz so gefährlich. Umwerfend ist das Geld nicht, auch nicht mit Gefahrenzulage. Für unseren Job auf jeden Fall zu wenig.

Dieser Job läuft unter „Bombenentschärfer“, „Sprengmeister“, „Kampfmittelräumer“. Was ist denn nun der richtige Begriff?

Meine Berufsbezeichnung hier ist technischer Einsatzleiter West. An der Tür steht auch irgendwas von Regierungsangesteller.

Hört sich nicht so spannend an.

Wir selbst nennen uns ja auch schon seit DDR-Zeiten Sprengmeister.

Wie sind Sie das überhaupt geworden?

Das kam über meine Frau. Als die 1970 auf dem Sprengplatz als Hilfskraft angefangen hat, hat mich der Sprengmeister angesprochen, ob ich nicht auch zu ihm kommen wollte. Ich habe damals als Maschinenschlosser gearbeitet und war täglich zwei Stunden im Zug unterwegs. Jetzt bot sich ein Arbeitsplatz nur einen Kilometer entfernt. Gleiches Geld, tagtäglich an der frischen Luft – so haben die mir das schmackhaft gemacht.

Nicht ohne Erfolg.

Allerdings. Ich habe als Hilfskraft angefangen und mich langsam hochgearbeitet, Lehrgänge besucht und die Prüfung zum Sprengmeister bestanden.

Wie war die erste Bombe für Sie?

Die vergisst man nicht, das war eine russische 125-Kilo-Bombe. Da war hinter dem Zünder Unterdruck, und als ich den rausgedreht habe, gab das so ein schmatzendes Geräusch. Ich sag Ihnen, für einen Moment ging’s mir anders, auch wenn das bei diesem Typ so üblich war. Mein Chef hat nur gegrinst.

Was macht ein Sprengmeister an Silvester? Lassen Sie es da auch krachen?

Ich habe mir keine Böller mehr gekauft, seit ich aus der Lehre raus bin. Damals habe ich mir als Jugendlicher mit zwei, drei Blitzknallern die Händer verbrannt und musste vierzehn Tage krankmachen. Silvester stelle ich mich auf den Balkon und freu mich über das Feuerwerk der anderen. Da weiß ich wenigstens, ich werde nicht verletzt.

Sie entschärfen 500-Kilo-Bomben und haben Silvester Angst vor kleinen Knallern?

Mich hat das einfach vorsichtig gemacht. Ich brauch das auch nicht. Nach zwanzig Jahren auf dem Sprengplatz und zig Tonnen vernichteter Munition, da sage ich mir: Silvester lasse ich die anderen machen und schau einfach mal nur zu.