Japanische Museumsträume

Darf ein Kunstmuseum Schuhe verkaufen? Warum nicht. Ein anständiges Kaufhaus hat ja auch eine eigene Gemäldegalerie. Die Geschichte des Bijutsukan zeigt, wie sich seit 120 Jahren westliche Kunstverehrung und japanischer Kommerz vereinen

1970 brach ein Gründungsfieber aus. Allein Tadao Ando baute rund 30 Museen.Die Gefahr, dass das Museum wieder die Vermieterfunktion zu stark betont

von MARTIN EBNER

Nicht nur das zweitgrößte Museum Japans, eine „Kirche für unsere gegenwärtige Gesellschaft“ wollte er in Kobe bauen, sagt Tadao Ando. Vom Hafen aus sieht sein Anfang April eröffnetes Kunstmuseum einschüchternd aus: Über einer großen Freitreppe türmen sich drei gigantische Betonquader auf, die grauen Flächen werden nur von Fenstern und schwarzen Geländern unterbrochen.

Beim Näherkommen zeigt sich, dass die „Kirche“ so streng gar nicht sein will ist: Mit Blick auf den Haupteingang sind ein Café und ein Restaurant angeordnet; Besucher, die nicht in der „Bento-Zone“ Lunchpakete verzehren, kaufen im Museumsladen Pralinen, Spielzeug und andere schöne Dinge.

Die „Erwartungen der Betrachter zu betrügen“ ist Andos Absicht: „Was von außen scheinbar einfach und symmetrisch aussieht, entpuppt sich im Inneren als räumlich komplex.“ Das graue Treppenhaus ist ein Labyrinth. Zahlreiche Orientierungspläne weisen zu den hellen Ausstellungshallen.

Dort überraschte ein Backsteinhäuschen. Der Nachbau des ersten japanischen Kunstmuseums stand am Eingang der Ausstellung „Der Traum eines Museums: 120 Jahre ‚Bijutsukan‘-Konzept in Japan“. Mit 250 Werken bekannter Künstler, Katalogen und Modellen spektakulärer Projekte präsentierte sie die Geschichte der japanischen Kunstmuseen.

Natürlich gab es in Japan schon vor der Meiji-Zeit Kunst, und sie wurde auch gesammelt. Tempel bewahrten wertvolle Geschenke; Kunstliebhaber luden Freunde zur Besichtigung ihrer Schätze ein. Die Vorstellung, dass man dabei in Ehrfurcht erschauern müsse, scheint jedoch fremd gewesen zu sein: Bei „shogakai“ genannten Gelagen malten Künstler, während die Zuschauer aßen und tranken. Ein Wort für „Kunst“ gab es im alten Japan nicht.

Erst als sich Japan dem Westen öffnete, entdeckte die Meiji-Regierung, dass ein Staat auch ein Kunstmuseum haben müsse. In Tokio wurde deshalb 1877 in der „Landesausstellung zur Förderung von Industrie und Handel“ ein Pavillon aufgestellt, der zum ersten Mal „Kunst“ zeigte: Über dem Eingang waren „Fine Art Gallery“ und das dafür neu geschaffene Wort „bijutsukan“ zu lesen. Zu sehen waren japanische Bilder, westlich gerahmt an der Wand aufgereiht, Ölbilder, Skulpturen, aber auch Kleider und Blumenvasen. Dieser Pavillon prägte lange das japanische Verständnis von „Kunstmuseum“: eine temporäre Einrichtung einer Verkaufsausstellung, die zeitgenössische Kunstobjekte zeigt.

Nach dem Vorbild des Pariser Salons veranstaltete das japanische Bildungsministerium ab 1907 jährlich eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Die Jury dieser Schau legte auch fest, was „Kunst“ ist, nämlich Malerei im japanischen und westlichen Stil und Bildhauerei und sonst nichts. Gleichzeitig begann die Regierung, Objekte für ein Nationalmuseum moderner Kunst anzukaufen. Vor den Weltkriegen scheiterten jedoch alle staatlichen Museumsprojekte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlossen sich deshalb Künstler zu Ausstellungsgesellschaften zusammen; private Galerien wurden eröffnet. Große Einkaufshäuser gründeten ebenfalls Kunstabteilungen – bis heute staunen westliche Touristen, wenn sie zwischen Herrenkleidung und Haushaltswaren auf Werke renommierter Künstler stoßen.

Der Schiffstycoon Matsukata Kojiro plante, das größte Museum westlicher Kunst außerhalb Europas zu errichten. Er kaufte von Renaissancemalerei bis zu Gauguin rund 2.000 Kunstwerke an. Die grandiose Sammlung wurde jedoch in alle Welt verkauft, als Matsukata in Finanznöte geriet; lediglich 400 Werke sind heute in dem 1959 von Le Corbusier erbauten Nationalmuseum westlicher Kunst in Tokio zu sehen.

Besser erging es der Kollektion des Unternehmers Ohara Magosaburo, der dem Maler Kojima Torajiro ein Stipendium gab. Als Kojima fünfzig Gemälde, die er bei Monet und Matisse eingekauft hatte, in Schulen zeigte, war Ohara vom Erfolg dieser Ausstellungen so beeindruckt, dass er Kojima auf weitere Einkaufstouren schickte. 1930 wurde das Ohara-Museum als erstes Museum westlicher Kunst in Japan eingeweiht.

Mit der Eröffnung des Museums moderner Kunst in Kamakura und des Nationalmuseums moderner Kunst in Tokio gab es nach 1945 erstmals Institutionen, die zeitgenössische Kunst nicht nur ausstellen, sondern auch sammeln. Die Künstler brachen allerdings aus den Museen aus und schufen immer unhandlichere Werke. Die jährliche „Unabhängige Ausstellung“ der Zeitung Yomiuri versuchte, mit einer verschärften Hausordnung Exponate, die „unangenehmen Lärm machen“, „schlecht riechen“ oder „den Museumsboden beschädigen“, fern zu halten; 1963 hatte Yomiuri genug und stellte die Veranstaltung ein.

Ein Sammler, der nicht vor zeitgenössischer Kunst kapitulierte, war Yamamura Tokutaro. Sein Ansatz: Dokumentation von Performances, Interviews mit Künstlern über Happenings und Rekonstruktion von zerstörten Werken. Ein anderes Projekt für den Umgang mit unkonventioneller Kunst entwarf 1975 der Künstler Yamaguchi Katsuhiro: Sein „Imaginarium“ sollte mit Videos, Sofortbildkameras, Kopiergeräten und einem Satelliten ermöglichen, jederzeit Bilder zu verarbeiten und weiterzusenden – ein Vorläufer des Internets.

Während lange nur wenige Kunstmuseen in Japan existierten, brach ab 1970 ein Gründungsfieber aus; allein Tadao Ando baute rund 30 Museen. Oft war dabei eine spektakuläre Architektur wichtiger als die Sammlungen. Viele Museen organisierten keine Ausstellungen, sondern vermieteten nur Räume. Das Kunstmuseum in Kobe, zu dessen „Einzugsbereich“ der Kansei-Ballungsraum um Osaka gehört, machte da keine Ausnahme.

Als viertes „Museum moderner Kunst“ in Japan wurde es 1970 eröffnet und war gleich für Jahre ausgebucht. Neben jährlich sechs bis neun Sonderausstellungen von aktueller Kunst aus Kansei und Werken bekannter Namen, etwa Chagall oder Munch, blieb kein Platz für eine ständige Sammlung. Dann wurde jedoch ein Ankauffonds etabliert und für Kunst aus der Region, Drucke und „moderne Skulpturen“, etwa von Lehmbruck und Giacometti, ausgegeben. Nun zählt die Sammlung rund 7.000 Objekte.

Der Wunsch, wenigstens einen Teil dieser Sammlung zu zeigen, führte zur Aufgabe des ersten Gebäudes, das außerdem beim Hanshin-Erdbeben 1995 schwer beschädigt worden war. Mit 27.500 Quadratmetern bietet nun der Ando-Bau genug Platz für permanente Ausstellungssäle. Sie zeigen bis Juli Sammlungsstücke „von Meiji bis heute“, von August bis November Avantgarde aus der Yamamura-Sammlung; nächstes Jahr sind Holzschnitte und „Formen“, eine Ausstellung für blinde Besucher, geplant.

Im Obergeschoss lief bis Ende Juni die Schau zur Museumsgeschichte. Für September wird Van Gogh aus holländischen Museen angekündigt; im Frühjahr folgt britischer Romantizismus aus dem Victoria and Albert Museum. „Es ist die Politik des neuen Museums, große Ausstellungen zu präsentieren, die zu den größeren Räumen passen und große Besuchermassen anziehen können“, erläutert der Museumskatalog. Er sieht auch die Gefahr, „dass das Museum wieder die Vermieterfunktion zu stark betont. Das jährliche Budget beträgt wohl nicht mehr als ein Hundertstel des Betrages, der für das neue Gebäude ausgegeben wurde.“

Die rund 260 Millionen Euro teure Kunsthalle soll allerdings mehr sein als ein Ausstellungsort: ein Symbol für den Wiederaufbau der Stadt Kobe. „Häuser, Straßen, Hafenanlagen: die Hardware ist wieder hergestellt. Was noch fehlt, ist der spirituelle Wiederaufbau“, sagt Museumsdirektor Shigenobu Kimura: „Dieses geistige Revival ist das Ziel des Museums. So wie in New York: Diese Stadt war 1960 am Ende, dann hat das neue Lincoln-Kulturzentrum eine Renaissance ausgelöst. Wir haben die gleiche Mission.“ Besucher, denen das als Trost nicht reicht, können am Ausgang eine Reise nach Paris gewinnen.

www.artm.pref.hyogo.jp/home1.html; Katalog „The Dream of a Museum. 120 years of the concept of the ‚bijutsukan‘ in Japan“ (japanisch, englische Summaries der wichtigsten Texte)