sommerkrimi

Folge 16

Schließlich stieg er aus dem Chrysler und ging die Treppen zu seiner Wohnung hoch. Noch in Schuhen und Lederjacke, die Tasche in der Hand, schaltete er den Fernseher ein. Wieder diese hypnotisierenden Bilder. Ein Wahnsinn. Zwanzigtausend Menschen sollen da drin gewesen sein.

„Der Bundeskanzler hat umgehend nach den Anschlägen in einer Pressekonferenz die uneingeschränkte Solidarität der Europäischen Union mit den USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bekundet ...“

Lund glaubte zu erkennen, dass der Nachrichtensprecher nur mit Mühe die Fassung bewahrte.

„... aus amerikanischen Geheimdienstquellen verlautet, dass Ussama Bin Laden, ein radikaler Moslem-Führer aus Saudi-Arabien, hinter den Terror-Attacken steht. Bekannt hat sich jedoch noch niemand. Beweise für diese Vermutung sind von den Amerikanern bislang nicht vorgelegt worden. Bin Laden wird für eine Reihe schwerer Anschläge in den neunziger Jahren verantwortlich gemacht. Etwa auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam, wo mehrere Hundert Menschen starben.“

Pieter Lund stand von der Wohnzimmercouch auf und schaltete den Fernseher aus. Die Schuhe und die Lederjacke hatte er immer noch an. Er konnte unmöglich allein in diesem Loch bleiben, nicht heute, während sich die Welt gerade in die Luft sprengte, als wäre sie ein Luftballon, der nicht mehr rechtzeitig von der Gasflasche gezogen wurde. Er ging bleiernen Schrittes die Haustreppe hinunter, dann auf die Straße. Wieder war der Himmel sternenklar. Über der Stadt klebte ein bleicher Mond wie ein ahnungsloser Sticker in einem Kinder-Album. Lund fröstelte, obwohl es eine sehr milde Septembernacht war. Unmerklich beschleunigte er den Schritt, bis er endlich bei Eddys ankam, der kleinen, unspektakulären Eckkneipe direkt am Rande des Kiezes. Er setzte sich an seinen Ecktisch, ließ sich von Eddy einen Campari-Orange bringen und stierte in den Fernseher, der rechts über dem Tresen an die Decke montiert war. Nach dem dritten Campari war es ihm, als ob der Affe zurückkam. Urplötzlich trocknete seine Kehle aus und der Magen krampfte sich zusammen. Er richtete sich am Tisch auf, sog die Lunge voll Luft und spannte die Bauchmuskeln an. Was, verdammt noch mal, sollte das jetzt? Er hatte das Zeug länger als ein Jahr nicht mehr genommen. Das musste die verdammte Psyche sein. Ohne die angespannte Bauchdecke zu lockern, stand er vorsichtig auf, setzte sich an die Theke, ließ sich von Eddy eine große Flasche Selters geben und trank sie in einem Zug aus. Als er sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, kam sie endlich. Nora. Sie setzte sich zu ihm. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, legte er ihr ungelenk den Arm um den Hals und fragte:

„Wen willst du heute Nacht, den Bullen oder den Junkie?“

Sie blickte ihn ernst an. „Lass den Quatsch!“

Vorabdruck aus Holger Biedermann, Von Ratten und Menschen, Kriminalroman, erscheint am 28.8. bei Edition Nautilus Hamburg, 192 S., 12,90 Euro, © Edition Nautilus