asselalarm – oder: die kinderdemokratie von JOACHIM FRISCH
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90 Prozent der erwachsenen Deutschen ekeln sich vor Kellerasseln, Kinder dagegen überhaupt nicht (0 Prozent). Das ergab eine seriöse soziologische Erhebung im privaten Umkreis. Nun lautet das Thema dieser Kolumne nicht Ekel, sondern Demokratie. Also: 90 Prozent der Wahlberechtigten empfinden Ekel vor Asseln, während 100 Prozent der noch nicht Wahlberechtigten frei davon sind. Das allein macht die von demokratischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossenen Halb- und Viertelwüchsigen nicht zu besseren Demokraten, wiewohl das Ergebnis der Studie keinen triftigen Grund für das Herabsetzen des Wahlalters liefert. Doch folgende Begebenheit um ein Exemplar der gemeinen Kellerassel und mehrere Exemplare minderjähriger Staatsbürger bringt die demokratische Frage so schön auf den Punkt, dass sie allen Zweiflern und Lernwilligen als Lehrstück dienen möge.

Eines Morgens brachte ein Schüler der 2a eine Kellerassel mit in die Klasse und entfachte ein großes Tohuwabohu. Alle drängten sich um das Tierchen, bis schließlich ein künstlerisch begabter, aber wenig sensibler Mitschüler auf die Idee kam, dem Panzer der Assel mittels Tuschefarben eine fröhliche Gestalt zu verleihen. Schon bald leuchtete der zuvor graue Körper des Krebstierchens in nahezu allen Farben des Regenbogens. Die nun eintreffende Lehrerin fand die Klasse in heller Aufregung, denn mit dem Beginn der feinen Pinselarbeit hatte sich sogleich eine Opposition von ökologisch korrekt erzogenen Schülern formiert, die vehement das Recht der Kreatur auf Selbstbestimmtheit und Würde einforderte.

In einer hitzigen Diskussion prallten Argumente für die gestalterische Freiheit der Kunst auf Vorwürfe der Tierquälerei, und auch juristische Erwägungen wie der Besitzanspruch des Finders oder das Urheberrecht des Künstlers wurden ins Feld geführt.

Moderiert von der Klassenlehrerin tagte und debattierte nun zwei Stunden lang das Klassenparlament, während eine Kommission die ethisch-moralischen Aspekte des Falles eruierte. Leidet die gemeine Kellerassel unter der Bemalung ihres Rückenpanzers? Sind niedere Arten wie Mollusken, Insekten oder Krebstiere überhaupt leidensfähig? Bedeutet der schrill bemalte Körper für die Assel akute Lebensgefahr, weil die Färbung ihre natürlichen Feinde (etwa Fiete aus der 2b) anlocken dürfte?

Schließlich entschied das Klassenparlament mit knapper relativer Mehrheit, die Kellerassel behutsam abzuwaschen und in ihre natürliche Umgebung unter der Gehwegplatte vor dem Eingang zur Pausenhalle zu entlassen. Vor allem der Gedanke, Familienangehörige könnten in Sorge um die Assel sein, hatte wohl den Ausschlag zugunsten der human-ökologischen Fraktion gegeben.

Der demokratisch gefasste Entschluss konnte allerdings nicht umgesetzt werden, denn die Assel hatte sich durch den Abfluss des Waschbeckens, in dem sie sanft entfärbt werden sollte, auf und davon gemacht. Ob das nächste Händewaschen oder Fiete aus der 2b das Problem endgültig aus der Welt schafften, ist nicht überliefert.