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: Das Athletendorf der Leichtathletik-EM

Wohnen hinter Stacheldraht

Das Erste, was vom Dorf der Athleten ins Auge sticht, ist der übermannshohe Zaun. Fest und stabil sieht er aus, oben kringelt sich der Stacheldraht. Hinter dem Zaun wohnen während dieser Leichtathletik-Europameisterschaft in München über 2.000 Sportler und Funktionäre, davor werden während dieser sechs Tage ein paar hundert Polizisten mit umgehängten Maschinengewehren Wache schieben. Nach fröhlichem, unbeschwertem Sportfest sieht das nicht aus, sondern schon eher bedrohlich, martialisch gar. Und wenn man auf die grauen Wohnanlagen hinter dem Zaun blickt, kommt einem unweigerlich das unrühmlichste und doch berühmteste Foto in den Sinn, dass von diesem kleinen Betondorf gleich neben dem Münchner Olympiastadion geschossen wurde.

Dieses Foto aus der Vergangenheit zeigt einen von einer schwarzen Maske verhüllten Kopf, der über einen grauen Betonbalkon nach unten schaut, sonst nichts. Aber es ist dennoch ein schlimmes, grausames Foto von einem der schlimmsten und grausamsten Tage, die der Weltsport je erleben musste. Es ist das Foto der Olympischen Spiele von München, vom 5. September 1972, jenem Tag, an dessen Morgen acht Terroristen der Gruppe „Schwarzer September“ das Quartier der israelischen Olympiamannschaft überfielen. Die Terroristen forderten die Freilassung palästinensischer Häftlinge und töteten noch im Dorf zwei Sportler. Später, bei einer fehlgeschlagenen Befreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck, kamen neun weitere israelische Geiseln, ein Polizist sowie fünf Terroristen ums Leben. Noch später, viel, viel später, zogen dann Münchner Studenten ein ins Olympische Dorf.

Nun, 30 Jahre nach dem Anschlag, haben die Studenten ihre Buden räumen müssen – für die Zeit der Europameisterschaft und für deren Protagonisten, die nun ganz nah wohnen beim Stadion und den Trainingsstätten. Auch 17 Sportler aus Israel sind samt ihren Betreuern wieder ins Dorf gezogen, weil sie, wie Jack Cohen, der Generalsekretär des israelischen Leichtathletikverbandes, betont, „möglichst normal behandelt“ werden wollen, obwohl sie die Polizei viel lieber in einem Hotel in der Stadt untergebracht hätte – wegen der Sicherheit. Normal behandelt, das heißt in diesen EM-Tagen von München: bewacht von mehr als tausend Polizisten – und eingeschlossen hinter einem Zaun aus Stacheldraht.

FRANK KETTERER