ATTENTAT IN KASCHMIR: INDIEN DARF SICH NICHT PROVOZIEREN LASSEN
: Pilger sind Friedenssymbole

Für eine zünftige Terrorgruppe muss die Versuchung unwiderstehlich sein: Tausende von Pilgern laufen über offene Geröllhalden, übernachten in improvisierten Lagern – und das mitten im überwiegend muslimischen Kaschmir, in einer abgelegenen Gegend, die militanten islamischen Gruppen als Versteck dient. Zudem findet die Wallfahrt auch noch kurz vor den lokalen Wahlen statt, die die in den Augen dieser Gruppen unerträgliche Unterdrückungspolitik Delhis im umkämpften Gebirgsland noch unterträglicher machen wird.

Auch die regionalpolitische Wetterlage trug zur Gewaltaktion bei. Indiens Nachbarland Pakistan, bisher Schutzraum und Aufmarschgebiet für den kaschmirischen Untergrund, hatte sich vor Monatsfrist dem diplomatischen Druck der USA und der militärischen Drohung Indiens gebeugt und versprochen, jede Infiltration durch muslimische Kämpfer zu unterbinden. Der Sturm auf das Pilgerlager ist also eine Provokation Indiens, eine Ohrfeige für den Westen – und ein Denkzettel für Pakistans Präsident Musharraf. Dieser hat das Attentat zwar rasch verurteilt. Doch das heißt nicht, dass Indien und Pakistan nun am gleichen Strick ziehen. Nach wie vor sieht Delhi hinter jedem Schusswechsel die Handschrift Islamabads. Der jüngste Angriff birgt also durchaus das Risiko einer erneuten Eskalation zwischen zwei Atomstaaten, deren Truppen übrigens ständig alarmbereit sind.

Die Bluttat wirkt umso perfider, weil wehrlose Pilger getötet wurden. Dabei zeigt sich gerade in Kaschmir, dass die Muster von Hass und Misstrauen nicht unüberwindbar sind. Die Tatsache, dass Hindus seit Zeiten mitten in einer muslimischen Region vor einer Höhle einen vereisten Tropfstein verehren können, weil seine Form dem „Lingam“-Symbol ihres Gottes Shiva ähnelt, ist ein Zeichen – dafür, dass das Zusammenleben zwischen den Religionen nicht nur möglich ist, sondern eine historische Tatsache. Die Maultiertreiber und Sänftenträger, die Souvenir- und Fruchtsaftverkäufer entlang der Wallfahrtsstrecke sind alle Muslime; die meisten Begleitpolizisten auch. Die indische Regierung muss wissen, dass Orte wie die Pilgerstrecke Symbole für das Zusammenleben der Religionen in einem multikulturellen Staat ist. Ihre Reaktion wird so etwas wie ein Lackmustest für die Lebensfähigkeit einer solchen Gesellschaft sein. Falls Indiens Premier Vajpayee den Zwischenfall zum Anlass für eine neue Eskalation nimmt, wird er zwar den Rachedurst seiner Anhänger löschen. Doch gleichzeitig wäre seine Regierung nicht mehr von denjenigen Kräften zu unterscheiden, die sie zu bekämpfen vorgibt. BERNARD IMHASLY