Wettkampf der Unschuldigen

Anstatt zu drohen, verhandeln Russland und Georgien wieder. Für illegale Grenzüberschreitung vom Pankisi-Tal nach Tschetschenien ist keiner verantwortlich

MOSKAU taz ■ Während die russische und georgische Regierung noch am Wochenende kurz vor einem Krieg miteinander zu stehen schienen, begannen sie gestern miteinander zu verhandeln. Und zwar um vierzehn tschetschenische Freischärler, drei angebliche russische Milizionäre und einen georgischen Schäfer. Die auf der Flucht befindlichen Freischärler waren am Montag von georgischen Truppen festgenommen worden, als sie die Grenze des immer noch zur russischen Föderation gehörenden Tschetschenien in Richtung Georgien überschritten.

Ihretwegen reiste gestern Russlands Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow nach Tbilissi. Am Montag hatte Russlands Präsident Wladimir Putin verlauten lassen, er werde den Ernst der georgischen Behörden im Kampf gegen den internationalen Terrorismus daran messen, „wie schnell diese Kriminellen im Lefortowo-Gefängnis landen, in den Händen der russischen Justiz“. Georgiens Präsident Eduard Schewardnadse erklärte sich zur Auslieferung bereit, falls Russland Beweismaterial vorlege.

Deshalb folgte der Maschine Ustinows aus Moskau eine weitere – offenbar mit Koffern voller Beweismaterial. In Russland hält man die Festgenommenen für Leute des Rebellenführers Ruslan Gelajew, die vor einer Woche in Tschetschenien angriffen. Die russische Regierung behauptet, sie seien dabei aus der georgischen Pankisi-Schlucht gekommen, in der sich seit langem ein Konglomerat von Tschetschenien-Flüchtlingen, bewaffneten Banden, Drogenhändlern und – wie die USA vermuten – auch Al-Qaida-Kämpfern verbirgt. Wegen des plötzliche Auftauchens der Gelajew-Kämpfer in Südtschetschenien hatte Moskau in der vergangenen Woche Tbilissi mit einer Intervention in der Pankisi-Schlucht gedroht, um dort „Ordnung zu schaffen“.

Im Moment befinden sich Russland und Georgien in einer Art Unschuldswettbewerb in der Frage: Wer trägt die Verantwortung für unbefugte Überschreitungen der Grenze zwischen den beiden Ländern. Die Georgier haben dabei einen gewissen Vorsprung, denn sie machten am Sonntag schon drei Bürger Russlands dingfest, ihren Ausweisen nach Milizionäre, die sich visalos in der Pankisi-Schlucht herumtrieben. Tbilissi beschuldigt Moskau sogar, tschetschenische Rebellen absichtlich über die georgische Grenze zu „schubsen“.

Außerdem fordert Georgiens Regierung von Russland die Auslieferung eines georgischen Schäfers namens Lewan Telidse. Der soll die russische Einheiten in Tschetschenien vor dem Angriff der Gelajew-Gruppe gewarnt haben und bekam dafür von Putin einen Orden. Auch er – so die Logik Tbilissis – musste für seine Heldentat erst mal unbefugt die Grenze überschreiten.

Schewardnadse versucht sein angeschlagenes Prestige aufzupolieren, indem er immer wieder verspricht, in der Pankisi-Schlucht „selbstständig aufzuräumen“. Seine Partei „Bund georgischer Bürger“ hat bei den letzten Wahlen schwere Verluste erlitten. Wegen der Korruptheit der Führung des Landes stagnieren alle Reformen, der Staatshaushalt droht unter einem gewaltigen Defizit zusammenzubrechen. Die jungen Männer scheuen den Dienst in der Armee wegen der dort herrschenden Vetternwirtschaft. Und weil sie auch keine Lust haben, ihr Leben in einer abgelegenen Schlucht zu riskieren, sind bisher nur wenige der Anti-Terror-Truppe beigetreten, die die USA seit dem Frühjahr auszubilden versuchen. Die Rede ist von bisher 100 bis 200 Ausbildungswilligen auf 600 Plätzen. Es ist also schwer zu sehen, mit welchen Kräften Georgiens Präsident in der Schlucht operieren will. Immerhin hat er für deren Befriedung am Montag erstmals eine Frist gesetzt: anderthalb Monate.

BARBARA KERNECK