Der eine spricht, der andere nicht

Schon immer haben sich Pedro Almodóvars Filme vom Abgründigen und Monströsen gespeist. Jetzt hat er mit „Sprich mit ihr“ eine fantastische Liebesgeschichte ins Kino gebracht, in der sich Macht und Ohnmacht des männlichen Blicks offenbaren

„Sprich mit ihr“ findet zu einem neuen Verhältnis von Trieb und Sublimation Almodóvar zeigt, was Blicke mit weiblichen Figuren auf der Leinwand anstellen

von CRISTINA NORD

Etwa zwei Drittel von „Sprich mit ihr“ sind verstrichen, als sich Pedro Almodóvar eine Abschweifung gönnt. Es ist nicht die erste und nicht die letzte Abschweifung des an Handlungsfäden und -aufschüben reichen Films, wohl aber die bedeutsamste. Eine der vier Hauptfiguren, Benigno (Javier Cámara), hat den Stummfilm „El Amante Menguante“ („Der schwindende Liebhaber“) gesehen. Davon erzählt er einer anderen Hauptfigur, Alicia (Leonor Watling), obwohl sie keinem seiner Sätze folgen kann. Denn Alicia liegt seit vier Jahren im Koma, Benigno sorgt als Krankenpfleger für sie.

Während der Nacherzählung sieht man Ausschnitte aus „Der schwindende Liebhaber“: Eine Forscherin mit wirrem Haar und Nickelbrille – ganz vom Typ des mad scientist – arbeitet in einem Labor, das Almodóvar nach allen Regeln früher Filmkunst ausgestattet hat. Es gibt Reagenzgläser, Bunsenbrenner, Glaskolben, aus denen Qualm und Flüssigkeiten austreten, es brodelt und dampft. Die Forscherin, Amparo, ein Name, den man wie fast alle Namen des Films übersetzen kann (in diesem Fall steht er für Schutz und Hilfe), will eine Diätformel entwickeln, ihr Gefährte, Alfredo, ist eifersüchtig auf ihre Arbeit. Trotzdem bietet er sich an, das Gebräu am eigenen Leibe zu testen. Noch während er die Geliebte küsst und umarmt, beginnt er zu schrumpfen. Bald ist er so klein, wie zuvor sein Geschlechtsteil gewesen sein dürfte. Nach vielen Verwicklungen findet das Paar endlich in einem Hotel namens Youkali zusammen. „Schlaf“ – „Und wenn ich dich zerquetsche?“ steht auf einer zwischengeschnittenen Texttafel.

Amparo schläft trotzdem ein. Alfredo entfernt sich, indem er rückwärts geht, bis ihr Gesicht aussieht wie eine Großaufnahme auf der Leinwand und er wie ein Zuschauer in einem Kinosaal. Für diesen Moment ist die schlafende Amparo eine Diva, Star, le bel objet à regarder, passiv und zugleich von überdimensionaler Größe. Später wird Alfredo auf ihren Brüsten klettern wie ein Bergsteiger in einer Gebirgslandschaft, er wird in ihr Geschlecht hineintreten und dort verschwinden, weil sich ihm der Schrecken, nichts zu sehen, in Neugier verwandelt. Das Schauen wird von der Berührung abgelöst, in einer Geste, in der Genuss, Regression und Selbstauslöschung sich vermischen. Ein Schnitt auf Amparos Gesicht zeigt ihre Lust, ein zweiter, schärferer Schnitt führt in das Krankenzimmer zurück: Das Gesicht Alicias füllt die Leinwand. Ihre Lider schimmern blau vom Lidschatten, ihre Lippen rot vom Lippenstift.

Dass Almodóvar einen Stummfilm nachstellt, mag zunächst wie eine leicht exaltierte Reverenz an die Kinderzeit des Kinos aussehen. Doch die exzentrische Geste führt geradewegs ins Herz von „Sprich mit ihr“. Sie ist eine kleine Fiktion, die die große Fiktion in sich birgt, eine auf 16 mm geschrumpfte Version. Was Alfredo tut, tut auch Benigno, was Amparo widerfährt, widerfährt auch Alicia. Zugleich sind die Szenen aus „Der schwindende Liebhaber“ Substitut: Sie verbergen das Unerhörte, die Transgression, die im Krankenzimmer geschieht, und geben sie im selben Augenblick preis. In einem Raum, der sich den Blicken entzieht, weil ein Stummfilm die Leinwand einnimmt, vergewaltigt ein Krankenpfleger eine Patientin, von der es später einmal heißt, dass sie „praktisch tot“ sei und „mit keiner Faser ihres Körpers Ja sagen“ könne. Almodóvar muss diesen an Nekrophilie grenzenden Akt nicht zeigen, weil er ihn in „Der schwindende Liebhaber“ aufhebt (auch Kleist musste die Vergewaltigung der in Ohnmacht gefallenen Marquise von O. nicht explizit machen, weil er sie in einen Gedankenstrich bannte). Der Film erweist sich damit einer Sublimation gewachsen, zu der imstande zu sein er seiner Hauptfigur Benigno nicht gestattet.

Das Interessante daran ist, dass Almodóvar das Substitut dem, wofür es steht, nicht unterordnet. Die Geschichte von Amparo und Alfredo wird innerhalb der Ökonomie des Films nie auf ihre Funktion, etwas zu codieren, herabgesetzt, sondern hat ihren eigenen Wert. En passant gelangt „Sprich mit ihr“ zu einem neuen Verhältnis von Trieb und Sublimation, in dem jener nicht Wurzel und Motor für diese ist, sondern beides nebeneinander besteht. Wenn – etwa bei Hitchcock – auf dem Grund eines Filmes die Perversion als zu entschlüsselndes Geheimnis lauert, so ist sie bei Almodóvar ein Element neben anderen.

Ebenso wenig untergeordnet sind Szenen wie der Auftritt des brasilianischen Sängers Caetano Veloso, die Bilder eines schönen Tauchers im Pool oder die Ausschnitte aus Inszenierungen Pina Bauschs, mit denen „Sprich mit ihr“ öffnet und schließt. Und Ähnliches gilt für die Selbstreferenzialiät, mit der sich Almodóvar vor seinem eigenen Oeuvre und vor Marksteinen der Filmgeschichte – besonders den Melodramen Douglas Sirks und Hitchcocks „Psycho“, „Das Fenster zum Hof“ und „Vertigo“ – verbeugt. Man könnte darin eine postmoderne Lust am Zitat vermuten, doch steckt mehr dahinter: eine dem Plot ebenbürtige Reflexion auf das Wesen des Kinos, auf die Lust am Schauen und am Bild, auf die Natur der Schönheit, die wehtut, weil sie vergeht. Almodóvar hat sich noch nie um dramaturgische Geradlinigkeit bemüht, immer schon hat er seine Plots geweitet, entgrenzt, und darin liegt eine Großzügigkeit, die wesentlich beiträgt zur Anmut seiner Filme. Je stärker diese Anmut sich aus dem Abgründigen, dem Monströsen speist, um so aufregender wird sie.

Die Vergewaltigung markiert eine Peripetie: Von nun an geht Benigno seiner Selbstauslöschung entgegen. Seine Macht verwandelt sich in Ohnmacht, Alicias Koma in Leben („benigno“ heißt gütig, milde, was „Sprich mit ihr“ nicht ironisch meint. So sehr die Figur an Norman Bates erinnern mag, so sehr ist sie zugleich eine Art personifizierter Unschuld. Noch einmal zeigt sich: je größer die Ambiguität, umso größer das Wagnis des Films, umso größer das Staunen des Betrachters). Aus Rückblenden erfährt man, dass am Anfang der Aneignung der illegitime Blick stand. Der Blick, der für das Melodrama so charakteristisch ist, der sich durch Vorhänge schlängelt, vorbei an Fensterkreuzen, durch Glasbausteine oder halb geöffnete Türen. Der Blick, der haben will, was ihm nicht zusteht. In einer der ersten Szenen des Films, in der Chronologie also nach der Zeit der Rückblenden, sieht man, wie Benigno ein helles Leintuch über Alicia ausbreitet. Das Laken bekräftigt ihre Unschuld, zugleich ist es eine Mischung aus Leichentuch und Leinwand. Wie ein Signal, dass der heimliche, verbotene Blick in diesem Moment dem freien Projizieren weichen kann.

Wenn „Sprich mit ihr“ es auf einen Kurzschluss von Macht, Blick, Begehren und Berühren anlegt, so ist es alles andere als Zufall, dass die dritte Hauptfigur auf den Namen Marco hört: „marco“ heißt Rahmen, und so wie sich die Filmbilder des Kameramannes Javier Aguirresarobe unentwegt interne Kadrierungen schaffen, so agiert Marco (Darío Grandinetti) vor allem mit seinen Augen, als Beobachter. Seien es Pina Bauschs Tänzer und Tänzerinnen, sei es Velosos Konzert, sei es die Stierkämpferin Lydia (Rosario Flores), die vierte Hauptfigur, in die sich Marco zu verlieben meint – er sieht sie an, sperrt sie in seinem Blickfeld ein, und darin liegt eine Gefahr, die kaum minder bedrohlich ist als Benignos Perversion: dass nämlich das Objekt im Angeblicktwerden erstarrt, dass es vom Blick eingefroren wird, aufgespießt wie ein getrockneter Schmetterling. Genau dies geschieht für gewöhnlich mit dem weiblichen Star, der im Augenblick, in dem der Blick auf ihn fällt, zur Passivität gezwungen wird und damit für die Dauer seiner Anwesenheit das Fortlaufen des Filmes, der Handlung, der Aktion suspendiert. Lydia („lidia“ heißt Stierkampf) wird vom Stier durchbohrt, während alle Augen auf sie gerichtet sind, während alle Blicke sie durchdringen, und in der Folge fällt sie ins Koma wie Alicia: regungslos, versteinert, le bel objet à regarder, wenn auch keine glatte Oberfläche mehr, sondern von Narben entstellt.

Es ist einiges darüber geschrieben worden, dass Almodóvar mit „Sprich mit ihr“ ungewohnte Wege geht, insofern er sich nicht den weiblichen, sondern den männlichen Figuren widmet. Zieht man allein den Plot in Betracht, trifft das sicher zu. Nie hat man einen Film Almodóvars gesehen, in dem die weiblichen Hauptfiguren so passiv waren wie in „Sprich mit ihr“. Ob sie überhaupt noch lebendig sind, ob Austausch mit ihnen möglich ist und sie sich von Pflanzen unterscheiden, wird denn auch mehrmals verhandelt. Doch ist dies nur eine erste Ebene, hinter der Almodóvar etwas anderes unternimmt: Er untersucht, was der Blick mit der weiblichen Figur auf der Leinwand anstellt, er demonstriert gleichsam die Todesarten, die in der Bildwerdung lauern. In einem weiteren Schritt schert er aus dieser Ökonomie aus. Wenn Alicia aus dem Koma erwacht, ist sie aus dem Blick, der sie zum Objekt macht, entlassen. An Lydia zeigt Almodóvar, wie das Regiment der Blicke im Starkino für gewöhnlich funktioniert, an Alicia zeigt er, wie es sich überwinden lässt. Indem er die im Koma liegende Figur wiederbelebt, öffnet er der Schaulust einen Raum, in dem sich starre Rollenverteilungen verbieten. Das heißt auch, dass er retrospektiv erläutert, was seine bisherigen Filme so besonders machte.

An einer Stelle fordert Benigno Marco auf, mit Lydia zu sprechen (daher der Titel des Films). Doch Marco bleibt stumm. Erst viel später, nachdem ihm der Film eine éducation sentimentale hat angedeihen lassen, nachdem sich Marco und Benigno so nahe gekommen sind, dass die Kamera das Gesicht des sprechenden Benigno in einer raffinierten Spiegelung auf das Gesicht des schweigenden Marco gelegt hat, soll sich das ändern. Am Ende wird Marco zu einem Toten sprechen und damit nachholen, wozu er gegenüber der untoten Lydia nicht fähig war. Dergestalt geläutert, darf sich sein Blick auf Alicia richten.

„Sprich mit ihr“, Regie: Pedro Almodóvar. Mit Javier Cámara, Darío Grandinetti, Leonor Watling, Rosario Flores, Geraldine Chaplin, Caetano Veloso u.a., Spanien 2002, 116 Minuten