Auferstanden aus Ruinen

Der Finowkanal bei Eberswalde ist nicht nur ein Zeugnis der Industriekultur, sondern mit der Landesgartenschau auch ein Labor für Zukunftsentwürfe

von UWE RADA

Wie lebt es sich nach dem Ende der Industriegesellschaft? Welche Zukunft hat eine Gesellschaft, in der die Arbeit knapp, Zeit dagegen immer reichlicher vorhanden ist? Diese Frage stellt sich derzeit nicht nur in den „sterbenden Städten“ Ostdeutschlands, denen mit dem Wegbruch der industriellen Beschäftigung auch die Bewohner verloren gingen.

Auch bei der Landesgartenschau (Laga) in Eberswalde geht es um die Zeit nach der industriellen Arbeit, nur dass hier nicht die Verluste, sondern die neuen Möglichkeiten im Vordergrund stehen. Insofern sind die „Blütenträume am Finowkanal“, wie der Titel der noch bis 13. Oktober dauernden Schau heißt, eine fast schon ironische Replik auf Helmut Kohls „blühende Landschaften“. Hier das – illusionäre – Versprechen einer wirschaftlichen Zukunft, dort die illusionslose Antizipation des Freizeitparks Ostdeutschland.

Und der Freizeitpark lebt. Vor den Treetbooten, in denen man durch die Betriebsarchen, die Abwasserkanäle unter dem ehemaligen Walzwerk, schaukeln kann, ist das Gedränge groß. In den Archen selbst herrscht Kunstlicht, blau, gelb, rot, Freizeitfarben, nur nicht ganz so grell wie droben in den Blumenbeeten. Im Untergrund kommt die Freizeitgesellschaft noch etwas verhalten daher, fast wie eine letzte Verbeugung vor einer Zeit, in der man noch vom Glauben an den Fortschritt lebte.

Droben kommt vor dem Glauben das Essen. Im Liebermann-Café sind die Plätze schon am Vormittag besetzt, auf den Holztischen stehen Bier, Kuchen, Kaffee. Das Walzwerk, das Blechenhaus und die Hufeisenfabrik, jene Zeugen des ehemaligen Eberswalder Stadtteils Eisenspalterei, die heute die bauliche Grammatik der Landesgartenschau bilden, geraten etwas in den Hintergrund. Doch als postindustrielle Kulisse für den Sonntagsausflug funktionieren sie. Oder als Postkartenmotiv für allerlei Zukunftsträumereien. „Der Kanal, das Wasser ist offen. Märchenlandschaften zum Schwelgen in einer anderen Welt“, heißt es dazu bei den Ausstellungsmachern. Selten unverblümt ist der „Weg in die Postmoderne“ derart als Wunschtraum ausgestellt worden. Zwischen Helmut Kohl und den Blütenträumen am Finowkanal liegen tatsächlich Welten.

Vielleicht die eines ehemaligen Arbeiters aus dem Kranbau Eberswalde. 3.000 waren hier noch zu DDR-Zeiten beschäftigt, heute sind es 160. Eberswalde war damit der wichtigste Kranbaustandort der DDR und der 56 Meter hohe Montage-Eber sein ganzer Stolz.

Heute zählt der „Eber“ neben den Betriebsarchen zu den Highlights der Landesgartenschau. Von seiner 30 Meter hohen Plattform aus könnte der fiktive Kranbauer einen Blick werfen auf die fiktive Welt, die ihm folgt. Auf die „Insel der Liegenden“ zum Beispiel, einen Ort der Besinnung und Entspannung. Oder auf das Wegenetz aus feinen Blechen, ein Beispiel dafür, wie die neue Welt mit der alten harmonieren kann.

Vielleicht wüsste er als einer der wenigen aber auch, was es mit den beiden Baracken gleich unterhalb des Montage-Ebers auf sich hat, abgezäunt vom Laga-Gelände, Zugang nicht erwünscht. Hier, im Außenlager des KZ Ravensbrück, waren die Zwangsarbeiter untergebracht, die die Ardeltwerke, der Vorläufer von Kranbau Eberswalde, angefordert hatten. Doch solcherlei Geschichte bleibt bei den Blütenträumen außen vor.

Will man wirklich wissen, wie es sich am Ende der Industriegesellschaft lebt, muss man das Laga-Gelände verlassen. Muss den Finowkanal entlang in Richtung Finowfurt oder nach Osten, in Richtung Stadtzentrum. Dort trifft man dann auf Stadtteile, die heißen noch immer Kupferhammer oder Messingwerk. Vom Messingwerk ist heute nicht mehr viel übrig, das haben die Sowjets nach dem Krieg demontiert. Doch die von Paul Mebes zusammen mit seinem Schwager Paul Emmerich entworfenen Arbeiterhäuser aus den Zwanzigerjahren stehen noch immer. Als Zeugnisse des Glaubens nicht nur an den technischen, sondern auch den sozialen Fortschritt passen sie aber nicht so ohne weiteres ins Bild vom Freizeitpark. Gleiches gilt für die Reste des Kranbaus. Die gehören heute zur Kirow-Gruppe in Leipzig und montieren immerhin die größte Containerbrücke der Welt. Mit einem Zwanzigstel der alten Belegschaft und ohne Montage-Eber.

Historische Umbrüche hatte es entlang dem „Märkisch Wuppertal“, wie der Finowkanal einmal genannt wurde, immer wieder gegeben. Als eine der ersten künstlichen Wasserstraßen Deutschlands bereits von 1606 bis 1620 errichtet, machte er die Region um Eberswalde einst zum ersten industriellen Zentrums Brandenburg-Preußens. Doch dann kam der Dreißigjährige Krieg. „Der Kanal mit seinen elf Schleusen wurde größtenteils zerstört und verfiel“, weiß der Regionalplaner Carsten Seifert. „Um 1700 war die einstige Trasse kaum noch auffindbar.“

Ein zweiter Kanalbau erfolgte auf Anweisung Friedrichs des Großen erst zwischen 1743 und 1746. Die Chronik der danach entlang dem Kanal gegründeten Betriebe liest sich heute wie die Kulturgeschichte einer untergegangenen Epoche. Zwischen 1816 und 1818 bekommt der Kupferhammer sein Walzwerk, 1842 wird die Bahnlinie Berlin–Eberswalde eröffnet. Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat „Märkisch-Wuppertal“ einen großen Teil seiner Bedeutung verloren. Das vielleicht sinnbildlichste Beispiel dafür war der Bau des Oder-Havel-Kanals von 1906 bis 1914. Der durch den Wasserlauf des Finowkanals entstandenen Bandstadt von Finowfurt über Finow nach Eberswalde war ihr industriegeschichtlicher Ursprung abhanden gekommen.

Heute könnte man sagen: Was für ein Glück! Während der gesamte Schiffsverkehr nunmehr ganz unspektakulär auf dem Oder-Havel-Kanal abgewickelt wird, schlängelt sich der Finowkanal von Zerpenschleuse bis nach Niederfinow durch eine tatsächlich traumhaft schöne Industrie-, Garten- und Naturlandschaft. Und überall – wie zum Beweis einer behutsamen Ergänzung – die Zeichen einer neuen Epoche: Da ein neues Hafenbecken, dort ein Hinweisschild für die Radfahrer und Wanderer entlang dem alten Treidelweg.

Diese „landschaftsästhetisch ebenso reizvolle wie kulturgeschichtlich bedeutsame Raumsituation“ zu entwickeln ist nach Ansicht von Jürgen Peters die eigentliche Aufgabe der Landesgartenschau. Dabei kommt dem Landschaftspark im Finowtal nach Ansicht des Leiters des Fachbereichs Landschaftsplanung an der Fachhochschule Eberswalde sogar eine zentrale Funktion zu. Das ehemals erste Projekt einer „industriell veränderten Landschaft“, so Peters, „hat nun die Gelegenheit, zum Pilotprojekt einer nunmehr touristisch umgenutzten postindustriellen Region in Brandenburg zu avancieren“.

Die Metamorphose des Finowkanals zum „touristischen Canale Grande“, die Nachnutzung durch sanften Tourismus, sprich Wasser- und Radwanderer, aber auch die „Authentizität des Ortes“ für „Bildungstouristen“ sind für Peters erste Indizien eines tatsächlich gelungenen Strukturwandels. Eines Wandels, der die neuen Bedürfnisse der Menschen mit den wirtschaftlichen Erfordernissen verbinde, zumal in einer Stadt wie Eberswalde, die mit der vor zehn Jahren gegründeten Fachhochschule einen wichtigen Schritt in die neue Zeit gegangen ist. Manche Visionäre, wie etwa der Architekt Roland Poppensieker, gehen noch weiter und träumen bereits von einem Wassersportzentrum in Messingwerk oder einer „städtisch geprägten Lebenswelt des Wohnens und Arbeitens direkt am Finowkanal, nur 30 Minuten vom Zentrum Berlins entfernt“.

Noch allerdings überwiegen am Finowkanal die Ruinen, und außerhalb der Wochenden kommt kaum ein Radler vorbei, um sich hier ein Haus am Wasser zu erträumen. Vielleicht ist am Ende der Arbeit ja doch nicht so viel Zeit übrig, weil es allenthalben an Geld fehlt. Nicht nur in den Kassen der Gemeinden, sondern auch im Portmonee der künftigen Freizeitparkbewohner. Vielleicht gibt es Blütenträume ja nur dort, wo es auch blühende Landschaften gibt.

Eines zumindest hat die Landesgartenschau, jenseits aller postmodernen Visionen, erreicht. Der noch 1997 zur Verschüttung vorgesehene Finowkanal ist mit über 20 Millionen Euro aus Bundesmitteln saniert worden. Der Realisierung der Visionen steht nur noch die Realität im Wege.

Christian Härtel (Hrsg.): „Landschaftspark Finowtal. Ein Industriegebiet im Wandel“. Bebra-Verlag