„Viele fühlen sich ungerecht behandelt“

Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam zum Problem der genauen Zahl der Mauertoten, zur heutigen Bitterkeit vieler SED-Geschädigter und zur Frage, ob auch Grenzsoldaten Opfer sein konnten

taz: Herr Dr. Hertle, es gibt sehr unterschiedliche Zahlen zu den Opfern der deutschen Teilung und den Mauertoten. Ist es überhaupt wichtig, wie hoch die Zahlen genau sind?

Hans-Hermann Hertle: Die unterschiedlichen Zahlen über die Opfer der Mauer sorgen jedes Jahr für Verwirrung. Es ist richtig, dass man sich bemüht, die Zahl der Opfer festzustellen. Nach Angaben der Berliner Staatsanwaltschaft, die am stichhaltigsten ermittelte, hat es an der Mauer 86 Tote gegeben, die von DDR-Grenzwächtern erschossen wurden. Die Bemühungen der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“, die versucht, alle Opfer zu erfassen, sind insofern dubios, weil sie einen sehr weiten Opferbegriff hat, bei dem die Zahl kaum endgültig zu ermitteln ist.

Die Berliner Staatsanwaltschaft rechnet mit 270 Opfern der deutschen Teilung, die so genannte ZERV mit 421, die „Arbeitsgemeinschaft“ mit 985 – mit welcher Zahl hantieren Sie?

Ich würde von den Zahlen der Berliner Staatsanwaltschaft ausgehen, würde das aber nicht als die Gesamtsumme der Opfer ausgeben. Ich glaube, dass es schlechterdings unmöglich ist, die Gesamtzahl über die gesamte Periode der Existenz der DDR zu ermitteln. Dazu ist der Opferbegriff viel zu unscharf.

Die „Arbeitsgemeinschaft“ zählt unter anderem DDR-Grenzsoldaten mit, die ja eher Täter als Opfer sind.

Sie sind beides. Besonders in den Fällen, in denen sie im Dienst gestorben sind oder Unfälle erlitten haben, sind sie auch als Opfer zu verstehen. Man kann den Opferbegriff auch ausdehnen: Viele Grenzsoldaten waren ja Wehrpflichtige, die unter starkem Druck standen. Wenn sie geschossen haben, wurden viele ihr Leben lang von ihrem Gewissen geplagt.

Wird eigentlich in der Forschung zur DDR die Arbeit von Rainer Hildebrandt und seiner Arbeitsgemeinschaft anerkannt oder gelten sie als fanatische kalte Krieger?

Nein, sie gelten nicht als fanatische kalte Krieger. Rainer Hildebrandt sind große Verdienste insgesamt zuzuschreiben. Er hat sich auch zu Zeiten, als es weniger in Mode war, sich um die Opfer der Mauer zu kümmern, engagiert und dieses Museum aufgebaut. Das verdient ganz bestimmt eine Würdigung. Das ist ein großes Lebenswerk.

Dennoch steht Hildebrandts Museum am Checkpoint Charlie permanent in der Kritik.

Die Kritik macht sich vor allem fest an dem Trägerverein und an der Undurchsichtigkeit, mit der dort offensichtlich mit Finanzen umgegangen worden ist. Es wäre sicherlich auch im Interesse von Rainer Hildebrandt, wenn dort in den kommenden Jahren eine Trägerschaft gefunden und transparente Verhältnisse geschaffen würden, die das Museum von dieser Kritik entlasten würden.

Bei Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft kommt viel Verbitterung über ausbleibende Entschädigung von DDR-Opfern hoch – schaden diese harschen Angriffe, vor allem gegen die Bundesregierung, dem Ansehen der Arbeitsgemeinschaft, gar der DDR-Forschung?

Es ist nötig, dass auf die Opfer auch am Beispiel persönlicher Schicksale aufmerksam gemacht wird. Viele Opfer fühlen sich ungerecht behandelt, weil sie im Gefängnis saßen, nicht studieren oder bestimmte Berufe nicht ergreifen durften, ihre Lebenschancen stark beeinträchtigt wurden. Die Enttäuschung, die viele in den Opferverbänden verspüren, ist auch gerechtfertigt: Es ist eine Tatsache, dass gemäß der Rentengesetzgebung die Funktionäre und Träger des Regimes häufig besser dastehen als die jenigen, die im Gefängnis saßen oder in der ein oder anderen Weise verfolgt wurden.

INTERVIEW: PHILIPP GESSLER

Dr. Hans-Hermann Hertle (47) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, dessen Forschungsschwerpunkt die deutsch-deutsche Geschichte ist