Die Rückkehr der großen Erzählung

Im zweiten Band seiner Trilogie zum Informationszeitalter stellt Manuell Castells die Frage nach der Macht in der Netzwerkgesellschaft. Für ihn ist sie in den globalen Netzen verstreut. Die Realität kommt so ein bisschen zu kurz

Wir erleben, was manche für erstaunlich halten, eine neue Hoch-Zeit der großen Erzählungen. Nach den Jahrzehnten der Dekonstruktion ist wieder verallgemeinernde Welterklärung angesagt. Beispiele dafür sind vor allem Toni Negris und Michael Hardts Gegenwartsmythologie „Empire“ und Manuell Castells’ epochale Trilogie „Das Informationszeitalter“. Nachdem im vergangenen Herbst der erste Band in deutscher Übersetzung erschienen ist, in dem der Berkeley-Professor die Kapillaren der „Netzwerkgesellschaft“ erforscht (taz v. 20. 11. 2001), geht es in Band zwei um „Die Macht der Identität“.

Der Eröffnungsband spannte ein Erklärungsgefüge auf, in das sich der neuartige Netzwerkstaat Europäische Union ebenso fügt wie die Schläfer der al-Qaida, die Computerfreaks von nebenan wie der Sushi-Laden um die Ecke, der Broker in Tokio so wie der Attac-Aktivist in Heidelberg, George Soros genauso wie Ussama Bin Laden. Vor allem beschrieb Castells, wie die sozialen Interaktionsformen durch die Logik der Netzwerkgesellschaften vollständig revolutioniert werden.

Die Spannung zwischen „dem Netz und dem Selbst“ wurde im ersten Band nur angedeutet und ist das Thema des Mittelteils der Trilogie, der jetzt erscheint. Drei Leitmotive formieren die Grundthesen des Bandes. Zunächst jenes von der Machtlosigkeit der Staaten: Sie taugten als Organisationsprinzipien immer weniger, da sie eingeklemmt seien zwischen technologischer und ökonomischer Globalisierung einerseits und der Entwicklung pluraler Patchworkidentitäten andererseits. Motiv zwei ist die Entwicklung „pluraler Identitäten“: Castells unterscheidet sie in legitimierende Identität, Widerstandsidentität und Projektidentität. Teils sind sie Folge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse (wie der Feminismus, die neuen Lebensstile, die neuen Politikformen der sozialen Bewegungen), teils Reaktionen darauf. Motiv drei sind schließlich die „Gegenkräfte“, die Gemeinschaft, Identität und Sinn vermitteln und so „in diesen wirren Zeiten persönliche Sicherheit“ geben.

Diese Gegenkräfte selbst sind freilich moderne Kunstprodukte, die sich bloß als Archetypus tarnen. Ethnische Wurzeln etwa werden „verdreht, geteilt, neu bearbeitet, vermischt, unterschiedlich stigmatisiert und belohnt“, entsprechend der neuen Logik der Informationalisierung und Globalisierung der Kulturen, „die aus verwaschenen Identitäten symbolische Komposita macht“. Die hergebrachten Orientierungsrahmen – Religion, Nation, Gemeinschaft, Familie – fungieren als Lieferanten von Codes für die „Gegenoffensive gegen die Kultur der realen Virtualität“.

Der optimistische Grundton des ersten Bandes, der die „neue soziale Morphologie“ nicht ohne emphatische Zustimmung beschrieb – wenngleich nicht ohne klaren Blick auf ihre Ambivalenzen –, wechselt zumindest streckenweise in ein sanftes Moll, löst doch „die herrschende Logik der Netzwerkgesellschaft ihre eigene Herausforderung aus“. Die Politik ist in dem fundamentalen Widerspruch gefangen: Sie kann zwischen planetarer Bühne und lokaler Legitimationsbasis nur noch unzureichend reagieren. Zwar hat sie sich global vernetzt, aber sie packt die planetaren Probleme zu unambitioniert oder zu spät an.

Es hat eine gewisse Logik, dass Castells in seiner Gesellschaftstheorie horizontaler Netzwerke die Frage der „Macht“ auf den ersten knapp tausernd Seiten seines Oeuvres nur am Rande streifte. Es ist ebenso zwingend, dass er irgendwann um eine explizite Diskussion der Frage der Macht nicht mehr umhinkonnte und sie im fulminanten Schlusskapitel dieses Bandes aufwirft, der ansonsten reich an Exempeln und Studien lokaler Phänomene ist. Macht ist für ihn in globalen Netzwerken von Reichtum, Information und Bildern verstreut, in einem „System variabler Geometrie und entmaterialisierter Geografie“. Macht verschwindet nicht, sie ändert aber ihre Existenzform. Sie befindet sich in den Infomationscodes und in den bildlichen Repräsentationen. Macht hat, potenziell, jeder: Ussama Bin Laden, das Pentagon, die multinationalen Konzerne, Bill Gates, Attac. Wer mehr davon hat, ist immer umkämpft – und Ergebnis der permanenten Auseinandersetzung um die kulturellen Codes der Gesellschaft.

Das ist klug gedacht und schön beschrieben, könnte aber doch unserer Zeit ein wenig voraus sein. Denn kann man wirklich derart apodiktisch proklamieren, dass Macht heute nicht mehr in Institutionen gerinnt, sondern sich in Netzwerken dezentriert? Dass sie aus dem Computer kommt – und nicht mehr aus Gewehrläufen?

ROBERT MISIK

Manuell Castells: „Das Informationszeitalter, Band 2: Die Macht der Identität“, 512 Seiten, Verlag Leske & Budrich, Leverkusen 2002, 34,90 €