Der Sommer des Chamäleons

Der taz-Sommerroman. Über den heißesten Fall des unglaublich verletzten Privatdetektivs John Player. Von Tim Ingold. Sechster Teil.

Was bisher geschah: Ilse wurde Chamäleon Rama entwendet +++ John Player sucht Entwender und Entwendetes +++ Chamäleondieb hat gesungen +++ Offenbar steckt ein Syndikat mit Sitz auf Sylt dahinter +++ Player bricht sich beide Beine, bleibt aber cool.

Scheibenkleister. Die Beine waren durch, das kannte ich schon aus Erfahrung. Ich zückte mein Handy, um einen Krankenwagen zu rufen, überlegte es mir dann aber doch anders. Ein Kerl, der mit gebrochenen Beinen und einem Bettlaken über dem Kopf in der Hecke vor dem Gefängnis herumliegt, fordert zu viele lästige Fragen heraus. Ich ließ das Laken zurück und robbte ungefähr 500 Meter vom Knast weg, bevor ich den Anruf tätigte. Dann verschränkte ich die Arme im Nacken, starrte in den sternenklaren Himmel und wartete auf die Ambulanz.

Am nächsten Tag besuchte Ilse mich im Krankenhaus. Sie brachte mir selbstgebackene Kokosmakronen mit. Voll Rührung biss ich hinein und mir einen Zahn aus. Offenbar verwendete sie das gleiche Rezept wie meine Mutter, irgendwas mit schnelltrocknendem Beton. „Wie ist das passiert, John?“, fragte sie mit besorgtem Blick auf meine eingegipsten Beine. Ich hörte sie nicht, weil ich im tiefen Ausschnitt ihres zitronenbuttermilchfarbenen Kostüms versank. „Häh?“ – „Wie ist das passiert?“ – „Nebensächlich. Ilse, ich bin ganz nah dran. Ich brauche einen Rollstuhl und eine Fahrkarte nach Sylt. Und einen Zahnarzt. Wären Sie so nett, mir diese Dinge zu besorgen?“ – „Natürlich, John. Soll ich Ihnen sonst noch etwas besorgen?“ Ich verschluckte mich an dem abgebrochenen Zahn, den ich noch immer im Mund hatte. „Ein Glas Wasser bitte“, krächzte ich.

Später teilte ich Ilse meine bisherigen Ermittlungsergebnisse mit. Sie setzte sich in den Kopf, mich nach Sylt zu begleiten und wollte sich von diesem Vorhaben nicht abbringen lassen. „Ilse“, sagte ich eindringlich, „vergessen Sie‘s. Das ist viel zu gefährlich. Diese Typen sind Profis.“ – „Ich bin auch ein Profi. Ich habe den vierten Dan in Taekwondo, bin zweifache deutsche Meisterin im Biathlon und habe im Urlaub mehrmals Schnorchelkurse belegt.“ Ich war ehrlich beeindruckt, hielt die Idee aber dennoch für Käse. „Ilse, ich bin stolz auf mein monadisches Sein. Ich habe bisher noch niemals fremde Hilfe bei einem Fall angenommen. Äh, wären Sie mal so freundlich, mir meine Zigaretten zu reichen?“ – „Sie sind ein Sturkopf, John. Ein hyperautonomes Männchen, das sich lieber die Zunge abbeißt, als nach dem Weg zu fragen. Vergessen Sie Ihren falschen Stolz. Ich werde mitkommen, Sie schieben und Ihnen die Zigaretten reichen. Das ist mein letztes Wort.“

Ich musste schmunzeln, denn ich war offenbar nicht der einzige Sturkopf in diesem Raum. Mit ihrer kurzen Psychoanalyse hatte sie voll ins Schwarze getroffen. Sie war mir so sympathisch, dass mir ganz rosa ums Gemüt wurde. Dabei bin ich eigentlich ein ziemlich schwarzer Typ. Ich habe pechschwarze Haare, in etwa so pechschwarz wie ein geteerter und mit schwarzen Federn gefederter schwarzer Rabe. Die Packung meiner Zigaretten – John Player Special – ist so schwarz wie die Nacht. Meine Lunge ist schwarz vom Quarzen, meine Füße sind schwarz, weil meine schwarzen Socken fusseln und mein Herz ist so schwarz wie der Anus Luzifers, weil ich in meinem Leben schon so viele Enttäuschungen erleben musste. Und dennoch hat mein Herz einen kleinen rosafarbenen Flecken. Allerdings bleibt er den meisten Menschen verborgen. Nur junge, gutaussehende, makronenbackende Millionärstöchter mit fortgeschrittenen Meistergraden in asiatischen Kampfkünsten schienen direkt und ohne jeglichen Umweg mit ihm zu kommunizieren. Ich wurde so weich wie ein rosa Softeis unter der Mittagssonne von Addis Abeba. „Gut, Ilse“, sagte ich. „Organisieren wir einen Rollstuhl und dann nix wie raus hier.“ Und ab zum Zahnarzt, fügte ich in Gedanken hinzu.