DIE FLUT IM OSTEN STÄRKT DIE HILFSBEREITSCHAFT IM WESTEN
: Der Sinn der Katastrophe

Die Flut steigt – der Osten versinkt. Der „Aufbau Ost“, liest man in den Überschriften seriöser Zeitungen, ist zerstört. Die Ostdeutschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sind Opfer einer Katastrophe, die ihren bescheidenen, mühsam erarbeiteten Reichtum einfach hinwegspült. Viele müssen von vorne anfangen – wie 1990, als die Vereinigung das Alltagsleben im Osten radikal umstülpte.

Der Osten als Opfer – der metaphorische Gehalt der Katastrophe ist unübersehbar. In Bayern scheint man die Überschwemmungen routiniert zu bekämpfen. Wenn das nichts hilft, gibt man sich geschlagen, beginnt mit meist überschaubaren Aufräumarbeiten, taxiert den Schaden und ruft die Versicherung an. Im Westen, das sagen die Bilder der Nachrichtensendungen, die wir seit Tagen sehen, ist das technokratisch Nötige veranlasst. Man ist halbwegs auf das Unvorhersehbare vorbereitet, sei es Arbeitslosigkeit oder Starkregen.

Im Osten hingegen scheinen alle Dämme zu brechen. Die Flut in Bayern erscheint als handhabbares Unglück, die Flut in Sachsen ist eine alles hinwegreißende Katastrophe. Im Osten sind viele nicht oder schlecht versichert. Ihre Existenz droht buchstäblich zu versinken. Der Osten, das sagen die Bilder der zerborstenen Häuser in Grimma, der weggespülten Straßen in Pirna und des überfluteten Bahnhofs in Dresden, ist ein Gebiet, in dem das Tragische beheimatet ist, das die Westdeutschen ordentlich und erfolgreich aus ihrem Alltag verbannt haben.

Und jetzt? Jetzt muss und wird Hilfe aus dem Westen kommen. Kanzler Schröder setzt ein staatstragendes Gesicht auf und will von den Maastricht-Kriterien nichts mehr wissen: Katastrophe und Nation gehen vor EU und Sparen. Damit trifft er die Stimmung. Denn die Flutbilder sind auch eine Antwort. Sie lassen das Gefühl vieler Westdeutscher verblassen, dass sie zu viel Geld für den Osten bezahlen. Jetzt, angesichts der Bilder verwüsteter sächsischer Städte, wissen sie wieder, warum. In der Katastrophe rückt man zusammen. Und manche Katastrophe stiftet Sinn. STEFAN REINECKE