Bereit für die Doppelbelastung

Heute veröffentlicht der Mineralölkonzern Shell seine 14. Jugendstudie. Was dort zum Verhältnis von Jungen und Mädchen steht, ist mit Vorsicht zu genießen

Mädchen sind besser, weil sie besser sein müssen, wenn siesowohl Kinder als auch Karriere wollen

Diesmal sollte es aber nicht schief gehen: Kein großes Medium sollte die Ergebnisse der Shell-Jugendstudie vorab bekommen, um damit am Montag aktuell zur offiziellen Präsentation eine Titelstory zu liefern. Nein, nachdem im Jahr 2000 der Spiegel aus der bis dahin größten und umfassendsten 13. Shell-Jugendstudie so etwas Ähnliches gemacht hatte wie: „Und die meisten Teens sind Rassisten!“, sollten die Ergebnisse der 14. Jugendstudie bis zur sachgerechten Darstellung beim Festakt heute Morgen in Berlin unter Verschluss bleiben.

Und dann das: Erstmals übertrug der Ölmulti mit deutschem Sitz in Hamburg dem Bielefelder Soziologen und wissenschaftlichen Hansdampf in allen Schlagzeilen Klaus Hurrelmann die Verantwortung für die größte und umfassendste Jugendstudie aller Zeiten. Und was macht der Kerl? Er gibt dem Stern ein Interview, das dieser unter der Überschrift „Hurrelmann zur 14. Shell-Jugendstudie“ verkauft. Nur: Darüber hat Hurrelmann nach eigenem Dafürhalten mit dem Stern gar nicht gesprochen.

Der Begriff „Ego-Taktiker“ etwa, der nun als Stichwort für den Nachwuchs die Runde macht, ist keineswegs neu. Tatsächlich stammt er aus der Mitte der 90er-Jahre. Von der Tatsache, dass die durch den Begriff vermittelte Einsicht, dass Jugendliche sich meistens opportunistisch verhalten, nicht besonders weit führt, einmal ganz abgesehen: Die Diagnose „Ego-Taktiker“ kann kaum als neueste Erkenntnis über die heute 12- bis 25-Jährigen in die Geschichtsschreibung eingehen.

Dabei hat die Jugendstudie es nicht verdient, dass man ihren Erkenntniswert mit doofen Schlagworten zukleistert. Im Gegenteil: In der Vergangenheit halfen die Shell-Jugendstudien immer, zu differenzieren, wenn der Markt konsumgemäße Schubladen zu zimmern versuchte. Nicht zuletzt dank den jüngeren Untersuchungen hat sich auch bis in die letzte Nachrichtenredaktion herumgesprochen, dass sich zehn oder dreizehn Jahrgänge nicht auf einen Begriff bringen lassen. Das gilt auch dann, wenn sie einen prozentual immer geringeren Anteil der Gesellschaft ausmachen.

Was uns Hurrelmann im Stern quasi nebenher über die neueste Shell-Jugendstudie verrät, deckt sich mit dem jüngsten Trend in der Jugendberichterstattung: Jungs sind Opfer. Die Zeit entdeckte Ende Juli „Die neuen Prügelknaben“, und der Focus bekümmerte sich kurz darauf: „Arme Jungs!“ Unterstützt wird die Behauptung, die jungen Männer gerieten ins Hintertreffen, vor allem von einer Nachricht: Mädchen sind allgemein besser in der Schule.

Die Jungen, sagt Hurrelmann, „müssen sich warm anziehen“: Mädchen, so seine These, wissen schon als Teenager, dass sie, wenn sie sowohl auf Kinder als auch auf Karriere Wert legen, mehr drauf haben müssen als ihre männlichen Altersgenossen. Das macht sie ehrgeiziger und fleißiger. Und zack, zack! haben wir es auf der einen Seite mit sprachbegabten, wendigen, weiblichen Multitaskerinnen zu tun, ihre Zukunft fest im Griff, willensstark und ultra-fresh – und auf der anderen Seite lümmelt ein Haufen verpickelter Testosteronbomber, die im wesentlichen das Schulmobiliar zerkloppen und auch sonst nix in der Birne haben.

Diesen Eindruck aber hatten Mädchen nun eh schon immer. Neu ist allerdings die Erklärung für solche Unterschiede: „Jungen werden allein aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert“, schreibt die Zeit. Der Umstand, dass sie im Unterricht mehr Aufmerksamkeit bekommen als Mädchen, sei nicht ein Ausdruck von Bevorzugung, wie lange behauptet, sondern davon, dass sie stören und deshalb angeranzt werden müssen.

Und wer hat Schuld? Richtig: die Feministinnen. Seit Jahrzehnten behaupten sie, man müsse sich um die Mädchen kümmern, und nun sind wir so weit: Die Schule und letztlich auch die Elternhäuser bauen auf die Mädchen. Ordentlich, fleißig, strebsam und verbal gerüstet sind sie und werden deshalb gern gefördert. Jungs dagegen können sich nicht ausdrücken, prügeln deshalb sofort los, wenn es Probleme gibt, und werden dafür dann in die Ecke gestellt. Keiner versteht sie!

Das Muster ist klar: Der Feminismus hat es sich selbst zuzuschreiben, dass der Mann sich bis heute kaum vom Affen unterscheidet. Was für ein Unsinn!

Erstens gibt es mittlerweile nicht mehr nur reinliche Mädchen, die sich für ihre rosige Zukunft putzen, sondern auch eine wachsende Anzahl ungebärdiger Raufboldinnen, deren Erziehung ebenfalls Probleme bereiten dürfte.

Zweitens war das Verhalten der Mehrzahl der Mädchen tatsächlich schon immer konformer als das der Jungen. Prügelorgien im Klassenzimmer wurden auch früher nicht belohnt, Fleiß und Strebsamkeit dagegen schon. Richtig ist: Die Jungen haben ihren „Weil sie doch Jungs sind“-Bonus verloren. Und dafür wurde es auch Zeit.

Nur ist das noch nicht einmal das Verdienst des Feminismus, sondern Produkt eines gesellschaftlichen Fortschritts, der auf Leistungsmaximierung und Anpassung ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt setzt. Es gibt eben nur noch wenige geradlinige, vorgezeichnete Wege, auf denen Teenager schon vorwärts getrieben oder gezerrt werden, wenn sie eigentlich gerade mit Abenteuern ganz anderer Art beschäftigt sind. Stattdessen müssen Jugendliche schon früh selbst auf die Fragen antworten, was sie vorhaben, wo sie hinwollen, wie sie dahin kommen und was das eigentlich soll.

Die Jungen habenihren „Weil sie doch Jungs sind“-Bonus verloren. Und dafür wurde es auch Zeit.

Dazu reichen heute nicht mehr die Einsen in Mathe und Physik. Es bedarf der Fähigkeit ganz persönlicher Sinnstiftung, einer Konzentration auf das, was verlangt wird. Und es kann schon sein, dass Mädchen hierbei die Nase vorn haben – weil sie früh genug darauf hingewiesen werden, dass sie besser sein müssen als die Jungen, wenn sie sowohl Mütter als auch berufstätig sein wollen. Aber das hat mit Diskriminierung der Jungen nichts zu tun. Vielmehr führt die Anpassungsbereitschaft der Mädchen im Zeitalter des Superweibklischees dazu, dass sie sich nun für die erwartbare Doppelbelastung rüsten. Wie realistisch, wie zynisch: Die Mädchen erwarten keine Hilfe mehr, sie meinen jetzt tatsächlich, alles allein machen zu können.

Und sie werden es allein machen müssen, wenn nicht irgendwer auf die Idee kommt, aus den Hormonbeuteln neben ihnen auf der Schulbank verantwortungsvolle Zeitgenossen zu machen. „Das Kalkül, dass die Frau schon noch scheitern wird, hat die Mehrzahl der Jungen – auch wenn sie noch so politisch korrekt daherreden“, meint Hurrelmann. Aber das stimmt nicht.

Jungs haben kein Kalkül. Die Gesellschaft hat ein strukturelles Kalkül, und das lautet: Solange die Mädchen das Kind schon schaukeln, braucht man junge Männer nicht in die Pflicht nehmen. Die Jungs verhalten sich bloß entsprechend. Sich mehr um ihre Erziehung zu kümmern kann daher gar nicht schaden. Nicht weil es ein Zuviel an Feminismus gegeben hätte. Sondern weil er in der Kind-Karriere-Frage bislang nichts erreicht hat.

ULRIKE WINKELMANN