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Die Rache der Ungeborenen

Indiens Diskriminierung von Mädchengeburten führt zum Mangel bei Bräuten. Dorfräte verlangen jetzt von Politikern nicht mehr Arbeit, sondern heiratsfähige Frauen. Doch die werden von der Gesellschaft trotzdem noch nicht höher geachtet

Heiratswillige Mädchen können jetzt vor einer Hochzeit Bedingungen stellen

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Die weltweite Statistik zur Geschlechterverteilung sagt, dass auf 1.050 Frauen 1.000 Männer kommen. In Indien, wo eine patriarchalische Tradition einen männlichen Stammhalter bevorzugt, kehrt sich das Verhältnis um (933/1.000). Der indische Wirtschaftsnobelpreisträger und Wohlfahrtsökonom Amartya Sen spricht deshalb von den „32 Millionen vermissten Frauen“. Dies ist die Zahl, die sich aus dem Unterschied zwischen den bei der Bevölkerungszählung von 2001 registrierten 496 Millionen Mädchen und Frauen und den 528 Millionen ergibt, die Indien eigentlich haben müsste, wenn es dem weltweiten Durchschnitt folgen würde.

Hinter der Phantomzahl verbirgt sich meist eine kriminelle Handlung. Es sind die Millionen von ungeborenen Mädchen, die Opfer eines Fötizids geworden sind. Oder es sind die Babys, die noch vor ihrer Registrierung getötet werden. Nirgends ist das Missverhältnis zwischen Mädchen- und Knabengeburten so groß wie im indischen Nordwesten. Demografen nennen die Bundesstaaten Pandschab, Harjana, Delhi und Teile von Radschasthan, wo Mädchen beinahe ohne eine Spur verschwinden, Indiens „Bermudadreieck“.

Delhi hält mit 821 Mädchen- und 1.000 Knabengeburten den Rekord, gefolgt von Harjana mit 861/1.000 und Pandschab mit 874/1.000. Es ist die reichste Landwirtschaftsregion des Landes, doch zunehmender Wohlstand und Bildung versprechen keine Besserung, im Gegenteil: Bei der Zahl der bis Sechsjährigen, so der letztjährige Zensus, ist das Verhältnis nochmals um einige Dutzend Promille ungünstiger. Bevölkerungsexperten sind sich einig, dass die Technik den Trend beschleunigt. Ein Kind zu töten, indem sich die Mutter eine giftige Paste an die Brustwarzen streicht, ist auch für eine auf Knaben versessene Familie ein traumatischer Akt. Ultraschall- und Sonografiegeräte dagegen erlauben die Feststellung des Geschlechts noch während der Schwangerschaft. Es gibt zwar ein Gesetz gegen die technische Vorherbestimmung des Geschlechts eines ungeborenen Kindes, aber da es berechtigte medizinische Ausnahmen erlaubt, dienen diese Ärzten und Kliniken als Vorwand, um die Technik für den von den Eltern gewünschten Geschlechtertest zu missbrauchen.

Jedem Besucher einer Kleinstadt in der Region um Delhi muss die große Zahl von Kliniken und Arztpraxen ins Auge fallen, die sich als Spezialisten für Mutter und Kind ausweisen, oft aber nicht mehr als Ultraschallgeräte enthalten. Doch trotz der sauberen Diagnose lassen sich die Spuren oft nicht verwischen. Streunende Hunde graben die blutigen Überreste aus den Müllhaufen, und noch vor dem Beginn des Monsuns, wenn die Stadtverwaltungen die verstopften Abwasserrinnen reinigen lassen, kommen immer wieder die Überreste von Föten zum Vorschein.

Doch nun beginnen sich die Ungeborenen zu rächen. In den Dörfern Harjanas ist ein sexueller oder zumindest ein Familiennotstand ausgebrochen, denn die Bräute bleiben aus. In vielen Dörfern wimmelt es inwischen von heiratsfähigen und -willigen jungen Männern, die mit dreißig Jahren noch zu Hause sind oder vielmehr auf dem Dorfplatz herumsitzen. Mütter lamentieren über das Fehlen einer helfenden Hand im Haus und über das Stigma, das in der familienzentrierten indischen Gesellschaft dem Junggesellendasein anhaftet. Dorfräte appellieren an Politiker auf Wahlkampfbesuch, ihnen zu helfen. „Früher wollten wir Arbeit im Tausch für unsere Wahlstimme“ sagte ein Dorfältester der Journalistin Vijaya Pushkarna. „Heute wäre es uns lieber, er gäbe uns heiratsfähige Mädchen.“

Das soziale Übel der Mitgift, das Millionen von Brautvätern oft um alles Ersparte bringt, ist in Harjana praktisch verschwunden. Das Gegenteil, ein Bräutigamspreis, ist zwar noch nicht eingetreten, doch immer häufiger stellen nun heiratswillige Mädchen ihre Bedingungen: Der künftige Gatte soll lesen und schreiben können, und ein Beamter ist ihnen lieber als ein Bauer mit Kühen.

Millionen ungeborener Mädchen sind Opfer eines Fötizids

Die Rache, welche die Frauen für ihre ungeborenen Schwestern üben können, hat allerdings einen bitteren Geschmack. Der sexuelle und soziale Notstand, sagt der Soziologe M. S. Gill, hat die Kriminalitätsrate emporschnellen lassen. Als der Regierungschef von Harjana kürzlich das Dorf Bas achtzig Kilometer westlich von Delhi besuchte, verlangten die Bewohner nicht Jobs, und nicht Bräute, sondern vielmehr ein Gefängnis.

Sie wollten sich den langen Besuchsweg ins Distriktgefängnis ersparen, wo 300 junge Männer aus dem Dorf wegen kleiner Vergehen einsitzen. Vergewaltigungen seien dank einer archaisch strengen Dorfjustiz zwar selten, sagt Gill, doch immer häufiger entlade sich der Aggressionsstau in Form von Belästigungen junger Frauen.

Dies zeigt, dass der erhöhte Tauschwert der Frau nicht eine größere Wertschätzung mit sich bringt. Noch immer ist sie in den Augen „der Gesellschaft“ in erster Linie die Produzentin von Kindern und zwar wenn möglich weiterhin männlichen Geschlechts.

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