peter ahrens über Provinz
: Wandern, bis der Pudding kommt

Die Wochenenden im Paderborn der Siebzigerjahre waren unendlich lang und irgendwie – beruhigend

Als in meinem Fernsehapparat vor Tagen Schmutzwasser gummibestiefelte Kanzlerfüße benetzte, fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert. An Dieter Hallervorden, der im wilhelminischen Badedress im Duett mit Helga Feddersen „Die Wanne ist voll“ darbringt. Es ist Showblock im „Laufenden Band“, Samstagabend: Ausnahmsweise mal kein sprechender Emu oder ein grimassierender Brite, der Liegestühle aufzustellen versucht. Und die ganze Familie atemlos selig auf Großmutters Sofa vor der Mattscheibe, weil ein Paderborner Apotheker als Quizkandidat weder bei den drei Fragen aus der „Tagesschau“ strauchelte noch anschließend vergaß, das Fragezeichen auf Rudi Carrells Fließband zu erwähnen. Mit so einfachen Mitteln war Westfalen damals noch glücklich zu machen. Es waren halt die wilden 70er-Jahre in Paderborn.

Das Wochenende hatte in jenen Zeiten noch eine fixe Dramaturgie. Die Jugend war noch nicht der Orientierungslosigkeit preisgegeben, die sie heute veranlasst, ihre Zeit mit dem Hören von Bro’sis, dem Aufsuchen von FDP-Jugendorganisationen und dem Schmieren von Hakenkreuzen an Hauswände zu vertun. Samstagnachmittag nach der Schule Mittag essen, Rasen mähen, Kaffee trinken, Frankfurter Kranz, 15.05 Uhr „Sport und Musik“ auf WDR 2 mit Kurt Brumme am Mikrofon. Bundesliga-Konferenzschaltung mit Heribert Faßbender als Rundfunkreporter. Überstrahlt von Jochen Hageleith, der sich dadurch auszeichnete, dass immer dann ein Tor fiel, wenn er live auf Sendung war und hektisch abgerissene Halbsätze ins Mikro stieß. Ata Lameck spielt auf Walitza – sollte der Ball kommen, aber – und jetzt wieder der VfL nachgesetzt – wohin der Schuss geht – Sie hören die Kulisse – aber abgefälscht – den Eckball nehmen wir noch mit. Meine Schwester ist noch zwanzig Jahre später von aufgeregten Männerstimmen traumatisiert.

Danach Vorabendgottesdienst. Alternativ dazu 18.48 Uhr „Sportschau“, wo entsprechend zur Messfeier auch jeden Samstagabend eine mirakulöse Wandlung vor sich ging. Hans-Joachim Rauschenbach oder Manfred Vorderwülbecke drehten im Studio Pappbälle um, die plötzlich zu Spielberichten in bewegten Bildern mutierten.

Jeder Gottesdienst ist irgendwann zu Ende. Ob die Gebete gefruchtet hatten, ließ sich gleich anschließend bei der Ziehung der Lottozahlen überprüfen. Frau Tietze-Ludwig mit ihren falschen Zahlen war es im Grunde, die meinen kindlichen Gottesglauben erstmals zum Wanken brachte.

Endlich 20.15 Uhr. „Am Laufenden Band“. „Auf Los geht’s los“. „Einer wird gewinnen“. Schon Tage im Voraus wurde der Termin in der Hörzu mit einem Kugelschreiber markiert. Große Samstagabendunterhaltung, wie sie zuvor von den Ansagerinnen-Ikonen Claudia Doren oder Ute Verhoolen angepriesen wurde. Titanen der Fernsehkultur marschierten auf: Heinz Eckner, das Fernsehballett, Gabi, die Assistentin von Kuli. Anschließend schlafen.

Sonntag: Vormittags wird gewandert, Spazieren gehen, wie das verharmlosend genannt wurde. An diesem Tag werden Kinder in kratzende braune Stoffhosen gesteckt. Im Winter gab es zudem eine über den Kopf gezogene wollene Sturmhaube, die Jahre später jeden Verfassungsschützer wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot auf den Plan gerufen hätte. Der Diemelsee, der Teutoburger Wald, Grundsteinheim, Velmerstot, Wandern unterm Großen Viadukt Altenbeken – „Paderborn hat so ein schönes Umland“ rufen die Eltern aus, und die Füße werden müde.

Rückkehr bis spätestens 12 Uhr mittags: Dann muss das Sonntagsessen auf dem Tisch stehen. Hühnersuppe, Schweinebraten mit Klößen oder Kartoffeln, Pudding. Und im Hintergrund nuschelt als ewiger Sonntags-Background-Sound Werner Höfer aus dem Radio. Sechs Journalisten aus fünf Ländern prosten sich zu und politisieren im Frühschoppen. Manchmal wird es ein bisschen aufgeregter und ähnelt dem Samstagnachmittags-Radiogeräusch der Fußballreporter. Dann sitzen ein Israeli und ein Palästinenser am Tisch, und erst Höfers sonore Stimme pendelt den Pegel wieder auf zimmerlautes Mittelmaß ein. Einmal moderiert Höfer von Sylt aus, weil er dort wegen einer Sturmflut an der Nordsee festsitzt. Und irgendwann ist er weg und nur noch auf Sylt – Nazi-Vorwürfe sind da. Die Eltern schütteln den Kopf: „Ausgerechnet der Höfer. So ein souveräner, sympathischer Mann.“

Der Sonntagnachmittag wurde dann irgendwie im Zustand der Magen- und Gedankenschwere herumgebracht. 17.02 „Sportreportage“. 18.33 Uhr „Sportschau“. Für den „Tatort“ mit Kommissar Finke waren wir noch zu klein.

Die neue Woche konnte beginnen.

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