Die Industrie ist dafür, der Mittelstand nicht

Wirtschaftsverbände und Wissenschaftler reagieren gespalten auf den Regierungsbeschluss, die Steuerreform um ein Jahr zu verschieben

BERLIN taz ■ Die geplante Verschiebung der Steuerreform spaltet die Wirtschaft. Die großen Industrieverbände befürworten die Entscheidung der Bundesregierung, die zweite Entlastungsstufe vorerst auszusetzen. Der Mittelstand ist dagegen. Denn von der ersten Stufe der Reform hatten vor allem die großen Kapitalgesellschaften profitiert. Die zweite Stufe soll den Mittelstand und die Beschäftigten begünstigen: Für sie wird der Eingangssteuersatz von 19,9 auf 17 Prozent gesenkt, der Spitzensteuersatz von 48,5 auf 47 Prozent. Gleichzeitig erhöht sich der steuerfreie Grundbetrag von 7.426 auf 7.664 Euro.

Diese Entlastungen werden nun um ein Jahr verschoben. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer und Mittelständler ein Jahr länger warten müssen, bis sie mehr Geld in der Tasche haben – und mehr ausgeben oder neue Arbeitsplätze schaffen können.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Deutschen Industrie- und Handelskammern tragen den Regierungsbeschluss mit. Allerdings räumen die Präsidenten der beiden Industrieverbände ein, die Entscheidung treffe die Wirtschaft „zur Unzeit“, da die Konjunktur ohnehin schon schwach sei.

Auch viele Wirtschaftswissenschaftler sehen in dem Beschluss der Regierung das kleinste Übel. Denn die Alternative wäre, entweder die Neuverschuldung zu erhöhen oder die Haushalte der Ministerien zu kürzen. „Im Haushalt gibt es kaum mehr Luft für derartige Sonderausgaben“, meint etwa Volker Nitsch von der Bankgesellschaft Berlin. Sonst bekäme Deutschland Probleme mit der EU, die darüber wacht, dass die Neuverschuldung nicht höher als drei Prozent liegt. Und diese Grenze ist auch ohne Flut schon fast erreicht. Deshalb lobte auch EU-Währungskommissar Pedro Solbes gestern, „dass die notwendigen Maßnahmen finanziert werden, ohne den Prozess der Haushaltskonsolidierung zu gefährden.“

Andere Ökonomen wie der Finanzexperte Rolf Peffekoven halten das Verschieben der zweiten Reformstufe für falsch. „Das hat zweifellos negative Auswirkungen auf Wachstum und Konjunktur“, fürchtet Peffekoven. Der Beschluss der Regierung wirke wie eine Steuererhöhung. Sie dämpfe den privaten Konsum und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen. Die sechseinhalb Milliarden Euro, die der Bund spare, machten gerade mal ein Prozent des deutschen Gesamthaushaltes aus. „Umschichtungen in dieser Größenordnung sollten in einem ordentlich finanzierten Haushalt möglich sein.“

Die heftigsten Proteste kommen aus den Reihen der Mittelständler. „Wir müssen die Beseitigung der Schäden finanzieren. Die großen Kapitalgesellschaften dürfen sich freiwillig über Spenden beteiligen“, kritisierte Markus Guhl, Geschäftsführer der Aktionsgemeinschaft wirtschaftlicher Mittelstand. Zudem fürchten die Mittelständler, dass – wie schon nach der Wiedervereinigung – vor allem westdeutsche Konzerne vom Wiederaufbau in den Flutgebieten profitieren werden.

Sollte der Kanzler die heimliche Hoffnung hegen, sein Beschluss wirke wie ein Konjunkturprogramm für den ohnehin schon gebeutelten ostdeutschen Mittelstand – der Bundesverband mittelständische Wirtschaft teilt sie nicht. „Die Verschiebung hilft den betroffenen Unternehmen nicht und schadet den übrigen“, so Verbandspräsident Mario Ohoven zur taz. Und die ostdeutschen Unternehmen bräuchten Steuersenkungen noch viel dringender als die westdeutschen, weil sie meist noch jung seien, keine Kapitalrücklagen gebildet hätten und zusätzliche Ausgaben über Schulden finanzieren müssten.

KATHARINA KOUFEN