„Kein Wille zu einer Politik des Dialogs“

Dragoljub Mićunović, Präsident des jugoslawischen Bundesparlaments, kritisiert den Machtkampf in Serbien

taz: Kann die Krise in der serbisch-montenegrinischen Föderation überwunden werden?

Dragoljub Mićunović: Die Staatsgemeinschaft zwischen Serbien und Montenegro steckt schon lange in einer tiefen Krise. Das Problem zwischen den zwei jugoslawischen Teilrepubliken ist ein Problem der politischen Eliten. Wenn sich politische Führungsschichten auf dem Balkan auseinander setzen, dann greifen sie sofort zur Souveränität und lösen eine Krise der föderalen Institutionen aus. Jetzt sollte uns eigentlich eine Zeit der Integrationsprozesse bevorstehen, zumal das die Auffassung der EU ist. Diesen Impuls betrachten einige politische Führungskräfte allerdings als eine aufgezwungene Lösung, die die Souveränität der Teilrepubliken beschränkte. Dabei vergisst man, dass wir ein Land sind, das von Finanzhilfen abhängig ist. Die EU übt entsprechenden Druck auf Serbien und Montenegro aus, also hoffe ich, dass wir uns letztlich doch auf ein Modell einer gemeinsamen Staatsgemeinschaft einigen.

Existiert diese Föderation überhaupt noch?

De facto funktionieren Serbien und Montenegro derzeit wie zwei selbstständige Staaten, doch ohne eine Legitimität der eigenen Souveränität. In Montenegro hat die Regierung die Mehrheit im Parlament verloren, die neue Parlamentsmehrheit hat nur ein einziges Ziel, nämlich Präsident Milo Djukanović zu entmachten. Vorgezogene Parlamentswahlen sind für den Herbst angekündigt, und Präsidentschaftswahlen wird man auch nicht umgehen können. So ist es derzeit fragwürdig, wer überhaupt den Willen der Bürger Montenegros vertreten kann und wer im Namen Montenegros über die zukünftige Staatsgemeinschaft verhandelt.

Auch in Serbien stehen Präsidentschafts- und vorgezogene Parlamentswahlen bevor. Weshalb drängt denn in der konfusen Situation die EU darauf, dass man sich schon bis Ende August auf eine Verfassungsurkunde einigt, die das Fortbestehen der Föderation garantiert?

Die EU wollte unter allen Umständen ein Referendum über die Unabhängigkeit Montenegros vermeiden. Denn es besteht die Gefahr eines Dominoeffekts, der ein Referendum über die Selbstständigkeit im Kosovo und der Republika Srpska in Bosnien auslösen könnte. Auf diese Weise wieder Grundlagen für neue Staaten auf dem Balkan zu schaffen wäre ein schwerer Rückschlag. Deshalb drängt die EU auf eine schnelle Lösung; egal wie, Hauptsache, die Bundesrepublik Jugoslawien bleibt erhalten. Ein anderes Problem ist, dass die Gespräche zwischen der EU und Jugoslawien über viele wesentliche Themen, zum Beispiel die Aufnahme in den Europarat, nicht beginnen können, bevor man in Brüssel weiß, mit was für einem internationalen Subjekt man überhaupt verhandeln soll. Zuerst muss der Status Jugoslawiens definiert werden, das wenigstens einen einheitlichen Markt und ein einheitliches Rechtssystem haben sollte.

Wie wirkt sich der Machtkampf innerhalb der demokratischen Kräfte auf Serbien aus?

Der Machtkampf zwischen Bundespräsident Vojislav Koštunica und Serbiens Premier Zoran Djindjić hat nicht nur der in Serbien regierenden Koalition DOS, sondern auch dem Staat Schaden zugefügt. Er hat das Land destabilisiert, dementsprechend ist es weniger attraktiv für Auslandsinvestoren geworden, selbst die Aufnahme in den Europarat könnte in Frage gestellt werden. Die Reformen sind aufgehalten worden, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische und soziale.

Wo sehen Sie das eigentliche Problem?

In dem unbeherrschten Begehren nach der politischen Macht. Viele Politiker hier wollen einfach überall präsent sein, in allen möglichen Institutionen, in allen Ausschüssen, seien es nun Banken, Firmen oder Universitäten. Das zeugt davon, dass ein Willen zu einer ruhigen, konstruktiven Politik des Dialogs und der Kompromisse immer noch nicht vorhanden ist. Wir treffen hier den wildesten politischen Individualismus an, Parteiinteressen werden über Staatsinteressen gestellt, und natürlich leidet das Land darunter. Die meisten Politiker lassen sich von dem Ruhm treiben, dass man das Regime von Slobodan Milošević gestürzt hat. Und es scheint, dass jedermann glaubt, das größte Verdienst daran gehabt zu haben und an der Machtverteilung nicht genügend zu partizipieren. Eine solche Auffassung löst natürlich ständig Konflikte aus.

INTERVIEW: ANDREJ IVANJI