Long way home

Von Detroit über die Hitze Neuseelands nach Berlin: Der Techno-Produzent Recloose legt heute im Sternradio auf

In Kapiti herrscht Bruthitze und hohe Luftfeuchtigkeit. Dies bewirkt einen Geisteszustand, der keine klar voneinander getrennten Schlaf- und Wachphasen kennt. Durch eine Milchglas-Sonnenbrille sieht man den Tag, und die Nacht schleicht sich durch einen hindurch.

„Kapiti Dream“ heißt einer der Tracks auf „Cardiology“, dem aktuellen Album von Recloose. Deren Mastermind Matthew Chicoine richtet sich mit diesem House-Track sein neues Zuhause ein: So ein Klima hätte er gern, davon erzählt dieser Track. Kapiti ist der Name jener Küste Neuseelands, die Australien zugewandt ist. Dorthin hat Chicoine seinen Wohnort verlegt, nachdem das Album fertig war, von dem sich im Frühjahr die Fachpresse von De:Bug über Groove bis Spex einig war: ein gelungenes Album. Der Umzug nach Neuseeland hatte aber noch einen Grund: In dem Land, in dem Chicoine aufgewachsen ist, gibt es einen Präsidenten namens George W. Bush. Und Chicoine verpasst keine Gelegenheit, seine Angst vor dessen Unberechenbarkeit zu betonen.

In Chicoines alter Heimat Detroit existiert von jeher politische Aufgewecktheit in Techno-Zirkeln. Als Recloose verkehrte Chicoine in deren Zentrum, denn Carl Craig erkor ihn einst zum Lieblingszögling. Und das kam so: Chicoine, gerade nach Detroit gezogen, arbeitet im Burger-Restaurant. Als Craig reinkommt und bestellt, erhält er von Chicoine seinen Burger mit einer Demokassette zwischen den Weißbrotscheiben.

So kommt es zu ersten Veröffentlichungen auf Craigs Label Planet E, und im Laufe der Zeit tauscht Recloose Remixe mit Herbert und Jazzanova. Er verfeinert seine Produktionstechniken, bis ihm „Cardiology“ gelingt. Stücke wie „Ain’t Changin’“ klingen gar nicht so anders als die Musik, die man deshalb nicht mehr hören will, weil sie Produktionsweisen für Metaphern hält: Man hört nicht mehr hin, wenn ein Rhodes-Piano einzig dafür da ist, Ethikrat-Forderungen nach „Wärme“ zu bedienen.

Für Recloose dagegen ist eine Soulstimme nur legitim, weil sie ein Material ist, das solange zerschnitten, zerdehnt und gedoppelt werden kann, bis sie mit Elementen wie Handclaps und Electro-Bass zu einer Forderung der Tanzfläche wird. Auch den Downbeat-Tracks ist jene nocturne Stimmung eigen, die „Kapiti Dream“ so prägt und im schlitzohrigen „Ghost Stories“ auf den Punkt gebracht wird.

Die Schwüle aber, die sich Chicoine auf „Kapiti Dream“ so schön ausgemalt hat, scheint ein Produkt seiner Fanatasie zu sein. Denn in einem Interview klagte er neulich über die Kälte des Winters auf Neuseeland.

CHRISTOPH BRAUN

Recloose, heute ab 23 Uhr im Sternradio, Alexanderplatz 5, Mitte