Die Schlacht im Schaufenster

Bundestagswahlkampf in der Hauptstadt: Die SPD will aus dem Regierungsitz in die Provinz ausstrahlen. Für die PDS ist Berlin hingegen wieder einmal das schicksalhafte Schlachtfeld. Und die Grünen träumen vom ersten Direktmandat für Ströbele

von STEFAN ALBERTI
und ROBIN ALEXANDER

SPD: Wahlkampf pur

Wie schlimm muss es noch kommen, bis die SPD dazu lernt? War es nicht Deutschlands prominentester „Pur“-Fan Rudolf Scharping, der die Regierungspartei mit seinem erzwungenen Abgang in nie gekannte demoskopische Tiefen schickte? Egal: Heute eröffnet wieder die schwäbische Vokuhila-Combo den Bundestagswahlkampf der SPD auf dem Berliner Gendarmenmarkt. „Pur“ soll die Massen locken, die anschließend von Klaus Wowereit und Gerhard Schröder agitiert werden. „Komm ins Abenteuerland / Der Eintritt kostet den Verstand“, singt die Band. Niemand kann also sagen, man habe ihn nicht gewarnt.

Streng genommen ist diese Eröffnung des SPD-Bundestagswahlkampf gar keine. Vor gut drei Wochen hat der Kanzler nämlich beschlossen, einen spontanen Frühstart hinzulegen, um den Rückstand gegenüber der CDU/CSU aufzuholen. Das ist ein bisschen schade, findet Peter Strieder, Landesvorsitzender in Berlin: „Wir haben uns als Berliner SPD einen starken Auftakt zugetraut.“ Schwer stolz ist man in der Parteizentrale darauf, dass der psychologisch wichtige Start nicht in den Hochburgen des Ruhrgebiets stattfindet, sondern auf dem Gendarmenmarkt, „Deutschlands wichtigstem Platz in Deutschlands Hauptstadt“ (Strieder).

Die Berliner Genossen – jahrelang in der SPD als tendenziell kontraproduktiver Landesverband eingeschätzt – fühlen sich jetzt stark. Strieder: „Bringen alle Landesverbände am 22. September, was wir bringen werden, dann sind wir durch.“ Die Umfrage gibt dem Selbstbewusstem Recht. Das Institut Forsa sieht die SPD in Berlin bei 38 Prozent. Die Flucht Gregor Gysis aus dem Amt drückt die Moblisierungskraft der PDS. Was dem langfristig denkenden Klaus Wowereit eher Sorgen macht, freut Strieder: Die Steigerungen in den Umfragen wurden vor allem in Ostberlin erzielt.

CDU: Auftakt im Osten

Dorthin zog es auch die Union: Beim Wahlkampfauftakt der Berliner CDU am Dienstagabend im Tierpark in Lichtenberg stand nicht der Bayer Stoiber, sondern die Ostdeutsche Angela Merkel auf der Bühne. Stoiber kommt erst zum Wahlkampfabschluss in einem Monat in die Max-Schmeling-Halle in Prenzlauer Berg. Das ist zwar immer noch Osten, aber nur knapp.

Lichtenberg ist für den Auftakttermin nicht zufällig gewählt. Die Union hat hier vor einem Jahr bei der Abgeordnetenhauswahl ihr zweitschlechtestes Bezirksergebnis eingefahren: müde 12,3 Prozent. Die PDS räumte mehr als viermal so viel ab, 53,2 Prozent. Es ist auch für die Ostfrau Merkel ein schwerer Abend, ein Reden gegen viele Pfiffe und Buhrufe.

Sie hält fast eine Stunde lang durch und ihren Gegnern in der Menge das Rosa-Luxemburg-Wort entgegen, wonach Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden sei. Günther Nooke steht neben ihr, der Spitzenkandidat der Berliner CDU, dem nur seine eigene Partei Außenseiterchancen für den Pankower Wahlkreis einräumt. Auch er, der Ex-DDR-Bürgerrechtler, bekommt Pfiffe statt Ossi-Bonus.

Mindestens 27 bis 28 Prozent will die Union am 22. September holen, ist von Wahlkampfmanager Matthias Wambach zu hören. Unter 24 Prozent waren es vor vier Jahren, als die Union keines der damals 13 Direktmandate holte und sogar ihre sicher geglaubten Wahlkreise im Südwesten der Stadt verlor. Jetzt hofft man auf Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg und sieht gute Chancen in Spandau, Neukölln und Reinickendorf.

Mit Wirtschaftskompetenz will die Union laut Wambach auch in Berlin vorrangig den Wahlkampf bestreiten. Die jüngste Arbeitslosenquote von 17 Prozent passt gut in die Strategie. Die Idee, Rot-Rot als Schreckensvision auch für die Bundesebene zu skizzieren, soll hingegen nicht im Vordergrund stehen.

Auf der Bühne warnt der örtliche Direktkandidat Georg Eickhoff vor zu viel Zuwanderung, mag aber für Lichtenberg doch kein Ausländerproblem erkennen: Er sehe bei seinen Rundtouren an den Klingeln fast nur deutsche Namen. „Das ist doch schön so“, kommentiert der CDU-Moderator neben ihm.

Ein sonst immer präsentes Gesicht fehlt an diesem Abend: Frank Steffel, CDU-Fraktionschef und Dauerschlusslicht im Sympathie-Ranking der Berliner Politik. Das sei ja hier keine landespolitische Angelegenheit, druckst Kandidat Eickhoff herum, ein zugereister Wessi, der in Friedrichshain wohnt und die Abwahl Eberhard Diepgens als Landeschef anstieß. Er ist einer der „Hugenotten“, jenem losen Verein von Zugezogenen, die Berlins Filz-Union erneuern möchten.

Mit Steffel jedenfalls kann die CDU im Osten keine Punkte zu machen, das wussten seine Parteifreunde schon im vergangenen Jahr bei der Abgeordnetenhauswahl – und verzichteten etwa in Hellersdorf dankend auf Steffel-Großplakate. In den Plänen der konservativen Wahlkämpfer kommt Berlin keine besondere Rolle zu. In der SPD hofft man eine gute Performance über die hier zahlreich versammelten Berichterstatter auch in die Provinzen tragen zu können.

PDS: Direktes Zittern

Für die PDS hingegen ist Berlin wieder einmal das Feld, auf dem die entscheidende Schlacht geschlagen wird. Der Einbruch in den Umfragen – in Berlin 13 Prozent vor, 8 nach nach Gysis Abgang – macht die schon sicher geglaubten 5 Prozent bundesweit wieder fraglich. Dabei hat die Ostpartei so gehofft, diesmal nicht auf drei Direktmandate aus Berlin angewiesen zu sein. Der neue Zuschnitt der Wahlkreise ist nämlich ungünstig für die Genossen: In den Ost-West-gemischten Wahlkreisen Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg-Ost und Mitte werden die bekannte ehemalige Bezirksbürgermeisterin Bärbel Grygier und der Partei- und Bald-auch-Fraktionsvorsitzende Stefan Liebich fast sicher Niederlagen einfahren. Und ob es der 26-jährigen Sandra Brunner in Pankow gelingen wird, den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse zu schlagen? Sehr fraglich. Gerade in Berlin hemmt die Unsicherheit über die Gysi-Eskapaden die Motivation. Hatte er nicht angekündigt, nicht voll in den Wahlkampf einzusteigen?

Nun ist der sozialistische Superstar doch zu über vierzig Terminen unterwegs – der Parteivorstand stellt ihm dafür Dienstwagen und Chauffeur. Gestern eröffneten die Sozialisten ihren Wahlkampf auf dem Alexanderplatz. Die Führung war da, die sich noch immer nicht einig ist, ob und wie man im Falle eines Falles Schröder gegen Stoiber unterstützt, als Showprogramm allerhand linke Mulitikulti-Staffage und – als Schlussredner – Gregor Gysi himself.

Grüne: Hauptgegner PDS

Gysis Rücktritt und das Absacken seiner Partei wollen die Grünen ausnutzen. Abgrenzung und Konkurrenz zur PDS sollen ein Schwerpunkt des Wahlkampfes sein. Gut, richtig gut sei die Stimmung in der Partei, die im Frühjahr noch von einer Schicksalswahl sprach und um den Wiedereinzug in den Bundestag bangte. Mit über 25.000 Euro aus der Ende April angelaufenen Spendenaktion „Wahlmitgliedschaft“ hat der Landesverband zudem seinen Wahlkampfetat um mehr als ein Viertel aufstocken können. Anders als in früheren Wahlkämpfen will die Partei auch Direktkandidaten nach vorne rücken. Zum Start in die heiße Phase soll Spitzenkandidatin Renate Künast heute Abend in der Kulturbrauerei vom Leder ziehen – das werde keine ministrable Rede, kündigt Landesgeschäftsführerin Kirsten Böttner an. Es sei kein Zeichen mangelnder Unterstützung, dass diese Veranstaltung nicht in Friedrichshain-Kreuzberg über die Bühne geht, wo Christian Ströbeles Kampagne das erste grüne Bundestagsdirektmandat holen will. „Die Unterstützung für ihn läuft auf anderer Ebene“, sagt Böttner. Sonntag soll Künast mit Ströbele in Kreuzberg zum Thema Klimaschutz auftreten.

FDP: Freie Fantasien

In der Berliner FDP reifen derweil Blütenträume: Seit dem spektakulären Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus im vergangen Jahr hält man hier alles für möglich. Die ersten drei Listenplätze sollen ziehen, dafür bräuchte die Partei 10 bis 12 Prozent. Fantasten träumen gar von einem vierten Mandat („Dann hätten wir eine liberale Berliner Landesgruppe“), das fällig werden könnte, wenn entweder die Grünen oder die PDS den Einzug in den Bundestag verpassen.

Spitzenkandidat ist bei den Berliner Kandidaten wie immer Günter Rexrodt, der seine Partei nach Gysis Rücktritt im Osten als Protestpartei verkaufen will. Spitzenveranstaltung ist ein Sonderparteitag der Bundespartei in Berlin Anfang September.

Berliner, die wochenlange Belästigung durch einfallslose Plakate und einfache Botschaften fürchten, sollten sich trösten: Wenigstens die Sparrhetorik des Senats wird im Wahlkampf deutlich reduziert. Das Berlin nicht mehr länger über seine Verhältnisse leben kann, will man den Bürgern schon vermitteln – aber erst nach dem 22. September.