Heimat hier wie dort

Vural Öger, Zuwanderer Nr. 31 und als Chef eines Reiseunternehmens erfolgreicher Geschäftsmann, hat seine Biographie geschrieben. Über sein Leben und darüber, was Integration für ihn heißt

Auf der Ausländerbehörde musste er sich jahrzehntelang von den Beamten duzen lassen

von ELKE SPANNER

Als die Türkei bei der Fußball-Weltmeisterschaft ins Halbfinale einzieht, steckt auch Vural Öger mitten im Autokonvoi. Hupkonzerte, türkische Fahnen und Lieder auf den Straßen rund um die Reeperbahn. Junge Frauen werden wie Trophäen aus den Autofenstern gehalten, mit Sekt und Bier prosten sich tausende Menschen zu, die sich nie zuvor gesehen haben. Gefeiert wird das Land, aus dem sie kommen, oder zumindest die Eltern, vielleicht war es nur die Generation davor, jetzt macht das keinen Unterschied. Manche haben noch ihre Kindheit dort verbracht, so wie Öger, der seit über 40 Jahren in Deutschland lebt und jetzt ebenfalls auf die Hupe drückt.„Jeder Mensch braucht eine Heimat“, sagt er dazu.

Wo für ihn die Heimat ist, entdeckt Öger in Situationen wie bei der Fußball-WM. Er entdeckt es jedes Mal neu, vielleicht hätte er wenige Wochen zuvor noch gesagt, dass es Deutschland ist, schließlich hat er zwei Drittel seines Lebens hier verbracht, hier sein Unternehmen und seine Familie gegründet. Dann fällt ein entscheidendes Tor, und er jubelt mit der Türkei. Die, sagt er, „ist meine emotionale Heimat geblieben“.

Öger ist einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Bundesrepublik. Er sitzt zwischen Möbeln aus dunklem Holz in seinem Chefbüro bei „Öger Tours“ in Alsterdorf, trägt in der Brusttasche seines cremefarbenen Designeranzuges ein Einstecktuch, passend zur Krawatte. Alles an ihm hat Stil, statt schlichter Filterzigaretten werden Zigarillos geraucht. Seine Biographie „Mein Deutschland, meine Türkei“, die er nun herausgegeben hat, liest sich an manchen Stellen, als müsse er sich für all das rechtfertigen. Zunächst gegenüber seiner Familie, seinem Vater, der den Sohn immer wieder drängte, endlich nach Hause zurückzukommen. Dann auch gegenüber sich selbst, „ich bin von meinem Vater immer zur Liebe zum Vaterland erzogen worden“, sagt er, deshalb gibt es ihm „ein gutes Gefühl, wenn ich etwas für mein Herkunftsland tun kann“. Als Reiseunternehmer, kann er erleichtert resümieren, habe er seinem Land letztlich mehr geben können, als es ihm als Ingenieur möglich gewesen wäre, und die Türkei mit voranzubringen war der Grund, warum er 1960 nach Deutschland gekommen ist.

Eigentlich wollte Öger nach der Schule Architektur studieren in Paris. In der Türkei aber wurden Anfang der sechziger Jahre dringend Ingenieure gebraucht, „zur Zeit meines Abiturs gab es in der Türkei für jemanden mit guten Noten kaum ein anderes Berufsziel“. Sein Vater hat ihm geraten, in Deutschland zu studieren. Als er 1960 mit dem Flugzeug in Köln landet, ist Öger Zuwanderer Nr. 31 der Bundesrepublik.

Öger sagt, es sei nichts Besonderes gewesen, als Türke in Deutschland zu sein, geschweige denn ein Problem. Man habe ihm mit auf den Weg gegeben, nur oft genug „Danke“ und „Bitte“ zu sagen, dann käme er in Deutschland prima durch. Einen Kulturschock hatte er nie, wenn er auch bis heute nicht begreifen kann, „woher die Deutschen den Mut nehmen, den Mond einen Mann zu nennen, der doch in allen Sprachen weiblich ist“. Coca Cola gab es hier auch, „wie bei uns zuHause“, und dass ihm beim Anflug Tee in Beuteln serviert wurde, war für den damals 18-Jährigen nicht mehr als eine interessante Geschäftsidee, die er sich für die Zukunft merken wollte. Diffamierung, sagt er, hat er keine erlebt. Man sei ihm stets freundlich begegnet, außer auf der Ausländerbehörde, wo er sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder duzen lassen musste.

Öger weiß, er hat Glück gehabt. Er kam in einer anderen Zeit. Den klassischen Typus der Gastarbeiter gab es 1960 noch nicht, die Ausländer in Deutschland gehörten „höheren kulturellen Schichten an“, hatten Bildung, Geld und damit das Ansehen der deutschen Gesellschaft. Auch er kam als Student, nicht als Arbeiter. Als der Kulturattache der türkischen Botschaft bei Ögers Begrüßung scherzte, wegen des Wirtschaftswunders kämen vielleicht in Zukunft Türken in großer Zahl, da „lachten wir beide sehr“. Dann aber wurden tatsächlich Tausende als Arbeitskräfte angeworben. Und es waren nicht länger nur junge Männer aus gebildeten Schichten, sondern viele „bäuerlicher Herkunft“, aus ländlichen Gegenden Anatoliens, die bereit waren, in den Fabriken zu arbeiten. Menschen, die laut Öger auch in den Städten der Türkei Schwierigkeiten hätten, sich zu integrieren, und in einem fremden Land erst recht. Das Image der Türken hier habe sich seither geändert, die Stimmung ihnen gegenüber auch. Türken aus dem oberen Mittelstand, sagt Öger, würden ihre Kinder mittlerweile eher in die USA als nach Deutschland schicken.

Der Erfolg des Reiseunternehmers, der 1996 seine Firma in Hamburg gründete, ist nicht nur an seinen Geschäftsbilanzen, sondern auch an ihm selbst abzulesen. Öger ist es gewohnt, dass man ihm zuhört. Fragen beantwortet er schon, ehe sie zu Ende formuliert werden konnten. Für alles hat er Zahlen parat, für die demographische Entwicklung der Bundesrepublik, den Bedarf an IT-Fachleuten und die Anerkennungsquote bei Asylsuchenden. In jedem Satz liegt Eile. Während er seine Antwort vorträgt, nimmt er nur hin und wieder direkten Blickkontakt auf, dann aber wird jeder Blick pflichtbewusst mit einem Lächeln geschmückt. Spricht Öger über Ausländer in der Bundesrepublik, meint er damit Migranten wie sich selbst, Zuwanderer mit festem Aufenthalt, und nicht auch Flüchtlinge vor Armut, politischer Verfolgung oder Krieg. Bei seiner Geschichte liegt das nahe, trotzdem fällt es auf.

Das Hin- und Hergerissensein zwischen Deutschland und der Herkunft, das praktische Leben hier und die emotionale Verbindung dort, ist für Migranten persönlich oft ein Problem. Es verleiht ihnen aber auch Kompetenz in Fragen der Zuwanderung, und Öger hat seine in den vergangenen Jahren immer mehr in politische Gremien eingebracht. 1998 hat er die Deutsch-Türkische Stiftung gegründet. Im vorigen Jahr hat er in der Zuwanderungskommission des Bundes mitgearbeitet, und in Hamburg sitzt er nun im neugegründeten Integrationsbeirat. Der früheren Kohl-Regierung wirft er vor, das Thema über Jahrzehnte ignoriert und damit „Parallelgesellschaften“ erzeugt zu haben. Staatliche Anlaufstelle für Zuwanderer war über Jahrzehnte allein die Ausländerbehörde, „und die war kein Integrationsoffice, sondern auf Abgrenzung bedacht“.

Das neue Zuwanderungsgesetz steuert Migration nach den Bedarfen der Wirtschaft. Auch Ögers Vorstellung von Integration orientiert sich an Ausländern, die ins wirtschaftliche Gefüge Deutschlands passen. „Deutschland braucht keine ungelernten Arbeiter“, sagt er. Stattdessen würden IT-Fachleute gebraucht, „Zuwanderung ist für ein Land immer eigennützig“. Doch es schlägt auch wieder das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Herkunftsland durch, das ihm selber über Jahre ein schlechtes Gewissen bereitet hat. So appelliert er an die „Intelligenzschicht“ aus anderen Staaten, nach dem Studium in Deutschland wieder ins Herkunftsland zurückzukehren. Sonst würden „diese Köpfe“ dort beim Aufbau der Wirtschaft fehlen.

Öger selber ist nach dem Studium in Deutschland geblieben, „so ist es eben manchmal im Leben, dass man seine Entscheidung ändert“, sagt er dazu. Als sich in den vergangenen Jahren tätliche Übergriffe auf Ausländer häuften, hat er sich mit seiner deutschen Ehefrau die Frage gestellt, „ob der Tag kommen würde, an dem wir in Deutschland nicht mehr leben könnten“. Heute beantwortet er die Frage eindeutig mit Nein. Inzwischen hat er einen deutschen Pass und die feste Überzeugung, dass die Bundesrepublik „auf keinen Fall ausländerfeindlich ist“. Neonazis würden nur 2-3 Prozent der Gesellschaft ausmachen und deshalb an deren Rand stehen, und Sprüche wie der von Innensenator Ronald Schill, dass „Ausländer den deutschen Wohlstand verfrühstücken“, seien „engstirnig und gehen an den Realitäten vorbei“. Die er dann wieder mit Zahlen benennt: 30 Milliarden Mark würden von Ausländern mehr in die deutschen Sozialkassen eingezahlt als in Anspruch genommen, acht Prozent der Rentenbeiträge von Nichtdeutschen geleistet und nur 2-3 Prozent wieder an sie ausbezahlt. Es ist ihm wichtig, das zu betonen. Inzwischen hat Öger zwei Heimatländer. Und damit auch zwei Länder, denen gegenüber er sich verantwortlich fühlt.

Vural Öger: Mein Deutschland, meine Türkei – Leben zwischen Bosporus und Elbe, Rowohlt-Verlag, Euro 19,90