Attacke auf die Sinne

Höchst lebendiges Theater als wuchtvolles Medium der Auseinandersetzung um Recht und Wahrheit: Teater Mandiri eröffnete mit dem grotesken Spektakel „Luka“ das Laokoon-Festival

Eine wahre Achterbahnfahrt durch das Totenreich

von MARGA WOLFF

Ein Foyer, das dank der bildenden Künstlerin Penelope Wehrli mit dezenten Lichtstimmungen und transparenten Raumteilern für angenehme Atmosphäre sorgt, empfängt auf Kampnagel die Besucher. Das Wetter war toll am ersten Abend des Laokoon-Theaterfestivals auf Kampnagel, besagtes Foyer somit wenig frequentiert. Und Wehrlis zarte Anspielungen auf die zunehmende Globalisierung – projizierte Textfragmente und Fotografien von Hochhäusern in verschiedenen Bauetappen – blieben fast unbemerkt neben der lauten Kritik an Bürokratie, die das Teater Mandiri aus Jakarta mit dem Spektakel Luka zum Auftakt bot.

Traditionsgemäß dient das weiße Tuch, glatt und unberührt, einem filigranen Schattenspiel als Bühne. Hier jedoch schlägt es heftige Wellen. Menschen werfen sich mit Wucht hinein, drücken ihre fleischlichen Konturen in den Stoff, kriechen gar darunter durch. Das Teater Mandiri verwandelt die Jahrhunderte alte, königliche Kunst des indonesischen Schattenrisstheaters wayang kulit in ein derbes Volksschauspiel. Luka („verwundet“) hat der Regisseur Putu Wijaya sein Spektakel genannt, das zum Laokoon-Auftakt zur Attacke auf die Sinne ansetzte. Die Geschichte, basierend auf dem Theaterstück The Coffin is Too Big for the Hole von dem singapurianischen Autor Kuo Pao Kun, wird eingangs kurz erzählt: Der Sarg mit dem verstorbenen Großvater passt nicht in die von der Regierung genormten Gräber.

Für den gebürtigen Balinesen und studierten Juristen Wijaya ist heute das Theater das Medium der Auseinandersetzung um Recht und Wahrheit, bei der stets Geister und Götter ihre Finger im Spiel haben. Und wie das Schattenspiel javanesischer und balinesischer Tradition ursprünglich der Kontaktaufnahme mit den Ahnen diente, so setzt das groteske Debakel um die Beerdigung des Großvaters zu einer wahren Achterbahnfahrt durch das Totenreich an. Neben den flachen Figuren aus Leder begegnen einem da die Masken der griechischen Tragödie.

Vor allem aber sind es die neun Darsteller, die sich hinter und unter wogenden Stofffluten in einen dynamischen Tanz stürzen. Die Konturen verschwimmen, ein elektronisches Fiepen und Rülpsen baut sich zu einer enervierenden Soundkulisse auf, in die sich traditionelle Klänge mischen. Glutrot färbt sich das Tuch. Dahinter macht eine Frau einen Striptease, streicht mit den Händen genüsslich den Umriss ihres Körpers entlang. Der Tod und das pralle Leben liegen dicht beieinander. Lustvoll fordert der Mensch seinen Körper zurück, gegenüber der Obrigkeit, die in Gestalt des peitschenknallenden Bürokraten auftritt. Unwillkürlich fühlt man sich da an die Happenings der frühen Siebziger erinnert.

Eine gesichtslose Stoffpuppe, die im Laufe des Stücks stetig wächst, wird am Seil nach oben gezerrt. Riesenhaft baut sie sich auf offener Bühne auf. An ihren Schultern klammert sich eine mit Blumen geschmückte Legong-Tänzerin fest, krallt die eben noch anmutig tanzenden Finger ängstlich in den Korpus. Die Schauspieler mit ihren weiß bemalten Gesichtern, den langen Haaren, den fast nackten Körpern setzen zum Tanz um diesen Totem an. Und für einen irritierenden Moment scheint es, als wollten sie das Publikum animieren mitzutanzen. Doch das ging auf Distanz angesichts der chaotischen Wucht, mit der hier mit einfachsten Mitteln, wider die stilisierte Form und im Sinne der Tradition, höchst lebendiges Theater gemacht wurde.

Sonnabend, 20 Uhr, Kampnagel k6