Fürchterlich wichtig

„Das Brandenburger Tor symbolisiert auch nicht mehr als ein Verkehrshindernis.“

von SOLVEIG WRIGHT

Hauptstadt. Berlin. Die Begriffe sind scheinbar synonym. In vielen Fällen kann man „Berlin“ auch einfach weglassen. Man liest in der Zeitung: „Die Müllentsorgung in der Hauptstadt wird immer schwieriger“, und jeder weiß selbstverständlich, um welchen Ort es geht. Die Hauptstadt. Immer wieder. Komischerweise habe ich in keinem anderen Land erlebt, dass die Hauptstadt immer nur als solche betitelt wird. London ist London, Paris ist Paris, Jakarta ist Jakarta. Nur Berlin ist „die Hauptstadt“. Bei Bonn war das nie so.

Überhaupt scheint Berlin etwas unglaublich Wichtiges zu sein. Die Kulturszene füllt sämtliche Feuilletons, aber richtig wichtig ist natürlich nur die alternative Szene, „der Underground“. Aus dem ist zum Beispiel die Love Parade hervorgegangen. Jedes Jahr wieder kriegen alle Nichtberliner die Geschichte erzählt, wie eines Jahres „ein Paar Verrückte zum Motto ‚Friede, Freude, Eierkuchen‘ hinter einem dröhnenden Laster herzuckten“ und dann daraus „die größte Party der Welt“ wurde (Zitat: beliebiges Massenmedium). Ich war da und habe mir das mal angeguckt. Menschen, die orientierungslos durch den Dreck waten, monoton zu ewig gleicher Musik tanzen und alle gleich angezogen sind: Karneval eben. Aber den finden Berliner ja doof. Angeblich finden sie ja auch die Love Parade doof und dreckig und einfallslos. Außer Dr. Motte. Ist der vielleicht doch kein Berliner?

Wer weiß. Wenn man Berlinern so zuhört, finden sie eigentlich alles an ihrer Stadt zu dreckig, zu einfallslos und zu doof. Aber wehe, man stimmt ihnen zu. Dann ist die Hölle los: Nur in Berlin ist was los! Nur in Berlin wurde jemals etwas erfunden! Nur Berlin hat „einen Underground“!

Und nur in Berlin kann man leben! Das behaupten alle, die mal einen Briefkasten in Berlin hatten, seien sie weggezogen, zugereist oder einfach Ureinwohner, ja, so muß man das sagen.

Mein Lieblingssymbol für Berlin ist das Brandenburger Tor. Neuerdings ist es auf allen Münzen drauf (okay, fast allen), Symbol für die Teilung, die Einheit und die grandiose Vergangenheit Berlins. Und dann steht man vor dem Ding, und wenn es nicht gerade eingerüstet ist, dann ist es klein, hässlich, eingeklemmt zwischen unansehnlichen Gebäuden auf einer der langweiligsten Straßen der Welt. Da ist nichts! Westlich erstreckt sich ein kleiner Wald und östlich eine erschreckende Mischung aus DDR-Platten und postmodern-historisierenden Prunkbauten. Wow! Und das Brandenburger Tor symbolisiert – im echten Leben – auch nicht mehr als ein Verkehrshindernis.

Berlin – die Hauptstadt. Vor dem Brandenburger Tor wird mir klar, warum das immer so betont wird: Berlin ist da, wo Menschen sich fürchterlich wichtig vorkommen, obwohl sie es eigentlich gar nicht sind. Und das soll ruhig jeder wissen.

Solveig Wright, 24, wurde in Rom geboren, wuchs bei Darmstadt auf und lebte ein Jahr in Potsdam. In Leipzig studiert sie Politik und BWL.