Tiefe Täler, hohe Berge

Die SPD darf wieder an einen Wahlsieg glauben – dem Flutkanzler Schröder sei Dank. Doch eine Trendwende bedeuten die neuen Umfragen noch nicht

von JENS KÖNIG

Sieht so die Trendwende aus? Gerhard Schröder hört aufmerksam zu, was der zwei Plätze neben ihm sitzende Peter Müller so alles zu erzählen hat, aber je länger sich der CDU-Ministerpräsident aus dem Saarland windet und erklärt, warum die Union das Finanzkonzept der Regierung zur Fluthilfe falsch findet, ihm aber im Bundesrat trotzdem zustimmen wird, desto mehr muss der Kanzler lachen.

Es ist ein stilles, süffisantes Lachen, das Schröder an diesem Donnerstagabend im Kanzleramt für einen kurzen Moment im Gesicht trägt. Es scheint auch so gar nicht zum dramatischen Ernst dieser Tage zu passen. „Ich habe hier eine Pflicht zu erfüllen“, hatte der Kanzler eine Woche zuvor noch mit bitterernster Miene gesagt und damit jeden Versuch abgewehrt, angesichts des Hochwassers an Wahlkampf auch nur zu denken. Jetzt würde er Peter Müller am liebsten sagen: Gebt doch zu, dass ich euch in die Konsensfalle gelockt habe!

Hinter Gerhard Schröder liegen zwei außerordentlich erfolgreiche Wochen. Da kann ihm schon mal ein Lachen herausrutschen. Als Manager der Hochwasserkatastrophe hat er das Richtige gesagt und das Richtige getan. Die Krise lässt ihn als Kanzler plötzlich wieder authentisch erscheinen. Das verdankt er seiner Intuition und Instinktsicherheit. Aber Schröder hat in einem atemberaubenden Tempo auch eine überzeugende Politik für die Bewältigung der Katastrophe entworfen: die schnelle Soforthilfe, die Finanzierung der Schadensbeseitigung durch Verschiebung der Steuerreform, die Koordination mit den Bundesländern, den Gipfel mit EU-Kommissions-Präsident Prodi. Eben noch war Schröder schon so gut wie abgeschrieben – und plötzlich macht ihn die nationale Katastrophe zum Kanzler aller Deutschen.

Stoiber und die Union stehen verzweifelt daneben. Sie wünschen sich nichts sehnlicher als vier flutfreie Wochen bis zur Wahl. Aber die Frage, wer Edmund Stoiber ist und was er kann, wie dieser „ernste Mann für ernste Zeiten“ eigentlich das Land regieren würde, wenn wirklich ernste Zeiten anbrächen, diese Frage wird die Union bis zum 22. September nicht mehr los.

Ausgerechnet in dieser Situation schafft es die SPD an diesemFreitag, zum ersten Mal seit Monaten in den Umfragen zur Union fast aufzuschließen. Und ausgerechnet an diesem Tag steigt Schröder in seinen Wahlkampfbus und startet seine Tour durch Deutschland. Und ausgerechnet an diesem Sonntag findet das erste Fernsehduell statt, bei dem ein selbstbewusster Kanzler jetzt auf einen angeschlagenen Herausforderer trifft. Ein besseres Drehbuch für den Start in die letzten vier Wochen bis zur Wahl hätte auch die Kampa nicht schreiben können.

Trotzdem sind das alles nur Momentaufnahmen. Eine Trendwende bedeuten die aktuellen Umfragedaten nicht. Der wichtigste Effekt ist wahrscheinlich reine Psychologie: Die SPD, von den schlechten Umfragen der vergangenen Monate schon fast vollständig zermürbt, hält ihren Wahlsieg wieder für möglich. „Das Rennen ist offen“, sagt SPD-Generalsekretär Franz Müntefering. Ansonsten möchte sich der Sauerländer von den Umfragen, die für die Sozialdemokraten ja auch ganz unterschiedliche Werte ausweisen (Forschungsgruppe Wahlen: 38 Prozent, Emnid: 34 Prozent), nicht verrückt machen lassen. „Ich bin Mittelgebirgler“, sagt Müntefering. „Bei uns sind die Täler nicht so tief und die Berge nicht so hoch.“

Die SPD verfährt seit Monaten ohnehin nach dem Prinzip Hoffnung. Erst sollte der Wirtschaftsaufschwung die Rettung bringen, dann Hartz, dann der „deutsche Weg“ und jetzt das Hochwasser mit dem Flutkanzler. Der Wahlkampf der Sozialdemokraten hat sich längst von der vorbereiteten Inszenierung entfernt. Jetzt sollen eine in nationaler Not schnell und sicher handelnde Regierung und ein Kanzler, der Gemeinsinn stiftet, die letzten vier Wochen dominieren. Und falls das Hochwasser doch schneller sinkt und Anfang September wieder die vier Millionen Arbeitslosen die Öffentlichkeit umtreiben, dann wird die SPD eben wieder stärker auf die Umsetzung des Hartz-Papiers zur Reform des Arbeitsmarktes setzen.

Und so ganz nebenbei wird sich dann vielleicht die Erkenntnis durchsetzen, dass Schröder in Krisen, für die er wie geschaffen scheint, immer nur die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen kann, die er vorher als Reformkanzler selbst verspielt hat.