Alarm erst bei Land unter

Der Katastrophenschutz hat funktioniert – aber erst nachdem die Katastrophe eingetreten war. Im Vorfeld wurde die kommende Gefahr allgemein unterschätzt

„Wir haben Bescheid gewusst, aber die Deiche waren der Katastrophe nicht gewachsen“

von IHNO GOLDENSTEIN

„Es wird nichts Spektakuläres passieren. Allenfalls wird der Deichfuß nass.“ Diese Auffassung vertrat Bernhard Schürmann vom Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft und Küstenschutz in Lüneburg am 14. August. Und auch seine schleswig-holsteinischen Kollegen rechneten nur mit einem Anstieg des Elbpegels bis auf einen Meter, wenn das Wasser, das Sachsen verwüstet hatte, ihren Elbabschnitt passieren würde. Glücklicherweise trafen sie trotzdem Vorkehrungen: Am Freitag erreichte der Pegelstand in Lauenburg im Dreiländereck zwischen Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen 8,70 Meter.

Anders Sachsen. Dort wurde man vom Hochwasser völlig überrascht. Nachdem nun die akuten Gefahren überstanden sind, ist die Landesregierung dabei, zu rekonstruieren, wie die Katastrophe eingetreten ist und was im Vorfeld hätte getan werden können. „Niemand kann derzeit sagen, was die allererste Information war und welchen Gehalt sie hatte“, erklärt Thomas Uslaub, Pressesprecher des Innenministeriums.

Fest steht, dass am Sonntag, 11. August, um 18 Uhr die Landeshochwasserzentrale eine Flutwarnung gegeben hatte. Warum viele Orte dennoch vom Wasser überrascht wurden, ist die entscheidende Frage. Flächendeckend gingen bis zu 350 Liter Regen pro Quadratmeter nieder. Die Folgen sind bekannt.

Sachsen-Anhalt reagierte am Dienstag, dem 13. August, auf die herannahenden Fluten. „Wir rechnen damit, dass im Magdeburger Raum morgen die Alarmstufe eins erreicht wird“, erklärte ein Sprecher des Landesbetriebes für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft an diesem Tag auf Anfrage der taz. Alarmstufe eins bedeutet erhöhte Beobachtung. Mit der höchsten Alarmstufe, vier, und damit „enormen Aufwendungen zur Deichsicherung“ wurde „zum Wochenende hin“ gerechnet. Die Hochwasserstelle Halle betonte jedoch, dass das Wasser entlang der Flüsse Elbe und Mulde in Sachsen-Anhalt genug Platz habe, sich innerhalb der Deiche auszubreiten. Eine Fehleinschätzung.

Obwohl der Katastrophenschutz in Sachsen-Anhalt wie nahezu überall in Deutschland Sache der Landkreise und kreisfreien Städte ist – bei großräumigen Gefahren auch der Bezirksregierungen –, wurde in Magdeburg ein zentraler Arbeitsstab Hochwasser eingerichtet. Dieser koordinierte die Verteilung der Hilfskräfte, erstellte Lageberichte und forderte Helfer aus anderen Ländern und beim Bund an.

Die größte Gefahr lauerte aber nicht an der Elbe: Am Abend des 13. August stand das Wasser der Mulde bei Bad Düben an der Landesgrenze bereits bei knapp acht Metern. Üblich sind etwa zwei. Der Landrat des Kreises Bitterfeld rief Katastrophenalarm und Hochwasseralarmstufe vier aus. Am Abend wurden die Einwohner von Jeßnitz und Raguhn evakuiert. Die Orte wurden später vollständig überflutet. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchte man, Bitterfeld und Dessau sowie die Bitterfelder Chemieanlagen vor Überflutungen zu bewahren. Das Werk wurde nach mehreren Dammbrüchen schließlich doch teilweise überschwemmt.

In der Bitterfelder Kreisverwaltung glaubt man nicht, dass selbst bei einer sehr frühzeitigen Warnung Überflutungen hätten vermieden können. „Wir haben Bescheid gewusst“, erklärt ein Sprecher des Landkreises gegenüber der taz. Aber: „Die Deiche waren der Katastrophe nicht gewachsen.“ In Brandenburg begann die Gefahrenabwehr am 14. August. Der Katastrophenstab im Innenministerium wurde aktiviert, übernahm die Einsatzführung und koordinierte die Logistik. Die Kleinstadt Mühlberg wurde einen Tag später evakuiert. Die Deiche wurden hier mit Sandsäcken erhöht, da sie nicht die Höhe der erwarteten Flutwelle hatten. Die Deiche hielten knapp. Insgesamt zwei Millionen Sandsäcke standen dem Land Brandenburg im nach der Oderflut von 1997 eingerichteten Katastrophenschutzzentrum Beeskow zur Verfügung. Viereinhalb Millionen Säcke hatte das Land bis Freitag verbaut.

„Soweit ich das beurteilen kann, hat der Katastrophenschutz funktioniert“, resümiert der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Professor Knut Ipsen. Er könne allerdings nur für die Einsatzbereiche sprechen, über die er informiert wurde. Dennoch sieht er Probleme: Vielerorts habe zu Beginn des Kampfes gegen die Fluten noch geklärt werden müssen, welche Organisation die Federführung übernimmt.

In dieselbe Kerbe schlug bereits wenige Tage nach Beginn der Elbeflut der Kieler Katastrophenforscher Wolf R. Dombrowsky. „Das ist Improvsation und Durchgewurstel von vorn bis hinten“, beschrieb er die Lage des deutschen Katastrophenschutzes. „Wir haben sechzehn Katastrophenschutzsysteme in Deutschland, aber kein einheitliches Führungs- und Kommunikationsystem.“

Dombrowsky wie Ipsen regen daher auch bundeseinheitliche Komponenten beim Katastrophenschutz an: Der Kieler Forscher fordert eine einheitliche Helferausbildung sowie ein zentrales Führungs-, Lenkungs und Kommunikationssystem. Ipsen sieht die Gefahr, dass sich die einzelnen Bundesländer bei der Bekämpfung einer überregionalen Katastrophe nicht einig sein könnten. „Da muss der Bund eingreifen können“, meint der DRK-Präsident. Für ein bundesweit zentral organisiertes Katastrophenschutzsystem sieht Ipsen dennoch keinen Bedarf. „Soweit würde ich nicht gehen. Meistens wissen die lokal betroffenen Kommunen viel besser, was sie zu tun haben.“

Immerhin: Nach dem 11. September hat die Innenministerkonferenz der Länder eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die untersuchen soll, wie der zivile Katastrophenschutz und der für den Verteidigungsfall vorgesehene Zivilschutz enger zusammengeführt werden könnten, erklärt Klaus Engemann, Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums.

Klimaforscher Dombrowsky kritisiert, dass in Deutschland ein präventiver Katastrophenschutz fehlt. Dafür müssten Gefahrenkarten angefertigt werden: „Man muss wissen, wo was passieren kann und wo Gefahrenpunkte sind.“ Der Darmstädter Deichbauexperte Ulrich Zanke fordert einen „Generalplan Hochwasserschutz“ für die deutschen Flüsse. Darin müssten der Ausbau der Dämme, Gefahrenstellen und Evakuierungspläne festgeschrieben werden. Immerhin will der Bund nun verstärkt die Analysen der 11.-September-Katastrophen-AG umsetzen. Eine zentrale Melde- und Alarmstelle ist darin ebenso enthalten wie eine Risikoanalyse der potenziellen Großschäden. Viel Arbeit für Katastrophenforscher.