Banalitätsbreitseiten

Das Leben als Strafe: Stoiber, Schröder, Pur und ein rekonvaleszenter Reporter

Engler schreit: „Wo sind all die Indianer hin?“ Längst geflohen vor seinen Darbietungen.

Hartmut Engler hält sein IQ-60-Gesicht in die Kamera, damit man es auf der Großbildwand sehen kann. Engler ist Sänger der schwäbischen Band Pur. Es ist Freitagnachmittag auf dem Berliner Gendarmenmarkt, es ist brütend heiß, aus den Gullys müfft es kanalrattig-kloakig. Aber das ist nichts gegen Engler. „An so einem Tag darf natürlich das Zwischenmenschliche nicht zu kurz kommen!“, ruft er in sein Mikrofon. „Und deshalb ein Lied über einen Satz, der genial ist oder banal, ganz wie man es sehen will: Ich lieb dich!“

Das Gegenteil von Musik ertönt, eckiges Gehacke, zu dem Engler sich bewegt, als ob sein ganzer Körper stottere. Wie so oft entpuppt sich das Zwischenmenschliche als äußerst unmenschlich: Wenn Hartmut Engler singt, müsste amnesty international einschreiten. Doch wie viele Folterer arbeitet auch dieser Mann im Auftrag seiner Regierung. Gerhard Schröder hat sich mit Engler und Pur ein Vorprogramm hingestellt, nach dem wirklich jeder vergleichsweise erträglich wirken muss.

Meine Verlegerin Antje Kunstmann kennt Pur noch nicht. „Was ist das?“, fragt sie mit flackernden, von Entsetzen geweiteten Augen. „Du hast im Zustand der Gnade gelebt“, sage ich. „Damit ist es jetzt vorbei.“ Immer ungläubiger hört sie zu. „Hat der wirklich gerade gesungen, ‚Ich lieb mich in dir fest?‘“ Ich nicke stumm, selbst schon mehr tot als lebendig. „Das ist ja ekelhaft!“, spricht sie die reine Wahrheit, wenngleich sehr zurückhaltend formuliert.

Für Gerhard Schröder haben seine Anhänger allerlei adäquate Parolen gebastelt. Auf roten Luftballons steht in Weiß „Frauen für Schröder“, auf orangefarbenen Luftballonwürsten in Schwarz: „Jetzt geht’s um die Wurst! – Jusos Berlin“. Beide müssen wir haben, das ist klar, und so laufen wir mit dem heliumgefüllten Irrsinn über den Platz, während Hartmut Engler schreit: „Wo sind all die Indianer hin?“ Längst geflohen vor seinen Darbietungen. Ein Plakat mit den weißaufblauen Zeilen „Dranbleiben, Gerd!“ mopse ich mir noch; das bekommt Freund Gerd Henschel im Goldrahmen zur Geburt des zweiten Kindes.

Gerhard Schröder spricht, rotbeschlipst im weißen Hemd, die Ärmel hat er nicht aufgekrempelt, obwohl er das doch am besten kann. Mit beiden Händen macht er beschwörend das V-für-Victory-Zeichen. Es ist ein Appell an den atavistischen Instinkt, dem Leittier zu folgen. Der Schriftzug in seinem Rücken lautet: „Für ein modernes Deutschland“. Wir trollen uns, eine Lektion im Gepäck: Das andere Wort für Sozialdemokratie ist Trostlosigkeit. SPD, das ist das Gegenteil von Schönheit, aber sogar noch zerdullernder als sozialdemokratische Politik ist sozialdemokratische Kultur: Sie ist Ausdruck des boshaften Wunsches, Menschen zu strafen, mit fieser Architektur, Einschlafliteratur und dem akustischen Auswurf von Hartmut Englers Pur.

Was dem Schnitzel beim Plattgehauenwerden durch den Fleischer widerfährt, das geschieht dem menschlichen Geist, der sich solcher Vorhölle aussetzte. Es braucht einen Tag und einen halben, sich von dieser Banalitätsbreitseite zu erholen. Einigermaßen erquickt stellt man sich dem nächsten Purgatorium – dem Duell Schröder versus Stoiber. Die Boulevard-TVler von Sat.1 und RTL simulieren eine Art Kammgarnseriosität und inszenieren 75 Minuten tödliches Nichts. Edmund Stoiber, der Kanzler werden möchte anstelle des Kanzlers, wirkt pennälerhaft, penibel brillig und wie seine eigene Briefmarke: zackig und flach. Sein angeknipstes Lächeln erscheint anorganisch und bettelt um Zuneigung – verkniffe er sich diese Anstrengung, spürte man immerhin nicht den Schweiß, den sie ihn kostet. Alles an Stoiber ist bemüht: „Ich bemühe mich“, sagt er und „ich habe mich engagiert“ – das sind die bösesten Vokabeln, die Arbeitgeber ihren Angestellten in Zeugnissen hinterherwerfen können: Er hat sich stets bemüht … er war immer engagiert – damit gibt man Verlierern einen Tritt. Auch so gesehen ist Stoibers Satz „Was ich für Bayern getan habe, möchte ich für ganz Deutschland tun“ eher süß als eine echte Drohung.

Im Direktvergleich mit seinem Herausforderer wirkt Gerhard Schröder relativ souverän. Das liegt an Stoiber – gegen dessen dünnes Klassenstreberlächeln gewinnt Schröders breites Machergrienen leicht. Hier spricht, in fettgedruckten Versalien, in Versace-Versalien quasi, DER KANZLER. Und da diese Wahl ganz auf das autoritäre Charakterpotenzial der Deutschen zugeschnitten ist, verliert der aktenmappige Stoiber hier an Boden: Er sieht aus wie einer, der Rapport erstattet, wie ein Duckmäuser, und wenn er spricht, denkt man: Naja, sein Chef kommt wohl erst noch.

Als es um die größte Dummheit des Abends geht, liegt Stoiber allerdings klar vorn. Wörtlich sagt er: „Deutschland ist ein großartiges Land, und die deutsche Bevölkerung ist eine großartige Bevölkerung.“

Man spürt das Bemühen, Schröder an peinlichem Populismus noch zu überbieten – und hört zugleich, in Stoibers Bürokratorsprache, die Unfähigkeit zur vox populi. Wer das Licht in seinem Kopf noch nicht vollständig gelöscht hat, der will sich solche leckzüngige Anbiederei nicht gefallen lassen, von niemandem.

WIGLAF DROSTE