Dafür, dagegen, nichts dazwischen

Auch über vier Monate nach dem Putschversuch gegen Präsident Hugo Chávez geht ein Riss durch die politische Landschaft Venezuelas. Die Opposition will Chávez vertreiben, der will sich verteidigen, die Wirtschaft kränkelt, ein Dialog findet nicht statt

aus Caracas GERHARD DILGER

Gelbblaurote Nationalflaggen wehen über der Menschenmenge. Leuchtend rote Fallschirmjägerbarette, handgemalte Transparente, das Konterfei von Che Guevara und Lieder des einheimischen Revolutionsbarden Alí Primera prägen die festliche Versammlung vor dem weiß getünchten Parlamentsgebäude in der Innenstadt von Caracas. Dann brechen die mehreren zehntausend Menschen, die 13 Kilometer quer durch die Hauptstadt Venezuelas marschiert sind, in Jubel aus: Hugo Chávez betritt die Rednerbühne.

An Samstagnachmittag griff der umstrittene Präsident erneut das Thema auf, das hierzulande seit Wochen die öffentliche Diskussion bestimmt: Wer ist verantwortlich für den Putschversuch am 11. April, durch den er für gut zwei Tage aus der Regierung gedrängt worden war? Zuvor hatten Scharfschützen in eine Demonstration gefeuert und 18 Menschen getötet. Täter wie Hintergründe sind bis heute unbekannt.

Der Oberste Gerichtshof beschloss kürzlich, gegen vier hohe, an der Verhaftung des Präsidenten beteiligte Militärs kein Verfahren wegen „militärischer Rebellion“ zu eröffnen.

Deswegen herrsche „Empörung und Protest“, charakterisiert Chávez die Stimmung im eigenen Lager, einige Richter hätten sich an die „korrupte Elite“ verkauft.

Nun solle das Parlament dafür sorgen, dass die Verfassung des Landes nicht mehr missachtet werde. Doch es wird dem Staatschef und seinen Parteifreunden schwer fallen, die Gewaltenteilung auszuhebeln, denn die Ab- oder Neuberufung der obersten Richter ist nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich.

Dieser Konflikt ist typisch für das Tauziehen zwischen den beiden Polen, in die sich die politische Landschaft Venezuelas gespalten hat: Da ist der linksnationalistische Präsident, der sich als Verteidiger der Armen ausgibt. 1998 und 2000 erhielt er vom Wahlvolk ein klares Mandat. Bis heute sehen Millionen ausgegrenzter Venezolaner im wortgewaltigen Mestizen Chávez ihren Hoffnungsträger. Sie betrachten den früheren Fallschirmjäger-Oberst, der sich vor 10 Jahren selbst an die Macht putschen wollte, als einen der ihren.

Allerdings hat die großspurig als „bolivarianische Revolution“ deklarierte Regierungspolitik bisher kaum greifbare Ergebnisse gezeitigt. „Durch seine radikale Rhetorik schockiert Chávez das Bürgertum und macht den Armen etwas vor“, kritisiert Antonio González von der Menschenrechtsorganisation Provea. Dabei seien Korrekturen am neoliberalen Wirtschaftskurs nur im Bildungs- und Gesundheitswesen erfolgt. Doch „eine Mischung von Inkompetenz und Korruption“ habe dazu geführt, dass Venezuela trotz hoher Erdölpreise in eine tiefe Rezession geschlingert sei, sagt ein deutscher Unternehmer, der nicht namentlich zitiert werden will.

Die Wirtschaftsdaten, die die Zentralbank vergangene Woche bekannt gegeben hat, sprechen eine deutliche Sprache: So fiel das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2002 um 7,1 Prozent, vor allem wegen einer niedrigen Ölförderung und einem Tief im Bausektor. Wegen der politischen Ungewissheit halten sich die Investoren zurück, räumt Produktions- und Handelsminister Ramón Rosales ein. Die Abwertung der Landeswährung Bolívar, seit einem halben Jahr in Gang, bedeutet Inflation und sinkende Realeinkommen für die allermeisten Venezolaner. Sozial- und Christdemokraten, die Venezuela seit 1983 heruntergewirtschaftet hatten, bilden mit Chávez-Gegnern jeglicher Couleur das Oppositionsbündnis „Demokratische Koordination“. Ihr Programm ist so knapp wie dürftig: „Weg mit Chávez!“

Statt Gesprächsbereitschaft dominieren Schuldzuweisungen und juristische Scheingefechte, die in der Bevölkerung kaum noch nachvollziehbar sind. Verstärkt wird die Polarisierung der politischen Klasse durch die Medien. Dabei stehen Staatsfunk und die Stadtteilsender den übermächtigen und sehr vehementen Oppositionsmedien gegenüber. Kaum zu Gehör kommen besonnene Stimmen wie die von Edgardo Lander, dem Mitunterzeichner eines Intellektuellen-Manifests für „soziale Gerechtigkeit und Demokratie“. Weder Regierung noch Opposition seien in der Lage, der Gegenseite ihren Willen aufzuzwingen, so der Soziologe. Deshalb sei der Dialog „unvermeidlich“. Die tonangebenden Kräfte, darunter Chávez selbst, sehen das noch anders.