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strafplanet erde: jeder muss sich zur wahl äußern von DIETRICH ZUR NEDDEN

Vorgestern lag eine Karte im Briefkasten, deren Aufgabe, Sinn, Zweck und Daseinsberechtigung war, mich davon in Kenntnis zu setzen, dass am 22. September Wahlen zum Deutschen Bundestag abgehalten werden. Was für eine Erleichterung! Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte mich. Denn ich darf mitmachen! Ich bin in das Wählerverzeichnis eingetragen, teilte mir die Karte mit.

Dass irgendetwas dieser Art auf mich zukommen würde, hatte ich geahnt. Überall kleben seit Wochen Plakate, modernes Deutschland hier, vermodertes Deutschland da, mehr netto! Und in den Zeitungen konnte man ja auch schon einiges davon lesen.

Aber geht man denn da nun auch hin? Lässt man’s, schimpft anschließend die Mama, dass man seine Stimme verschenkt habe und so den extremen Parteien Vorschub leiste und der Demokratie beinahe nicht würdig sei und so weiter. Mobilisiert man aber die vier, vierzehn oder vierzig Prozent, die in der eigenen Person an staatsbürgerlicher Verantwortungsvernunft oder so ähnlich vorhanden sind, und macht sein Kreuzchen, na, dann aber bitte nicht bei der falschen Partei! Irgendwann sind die kleineren Übel so was von winzig geworden, dass man sie auf dem Stimmzettel gar nicht mehr findet. Summa: Die Entscheidung ist echt schwer.

Unbedingt diskussionswürdig scheint mir deshalb ein Vorschlag des großen Gerhard Polt, der in der Frankfurter Rundschau sagte: „Ich müsste dafür, dass ich da überhaupt hingehe, 50 Euro kriegen und vielleicht die Spesen, ein Mittagessen oder Abendessen. Des müsste ja schon drin sein.“ Das sei außerdem kundenfreundlich und marktorientiert gedacht und obendrein fühle er sich ernst genommen, „wenn ich a Geld dafür bekäme. Dann wäre für mich das Ganze eine ernst zu nehmendere Sache.“

Ich darf einen weiteren Vorteil hinzufügen: der Begriff von der Politik- respektive Parteienverdrossenheit würde sich in Luft auflösen, wäre wenigstens nicht mehr mit mangelhafter Wahlbeteiligung zu belegen. Vielleicht könnte man sogar überlegen, ob nicht Inhaber von Payback-Karten und ähnlichem zudem einen Aufschlag von zehn Prozent erhalten, weil sie durch ihre kühle Sammelleidenschaft ein vorbildliches mentales Konsumentenverhalten zeigen. Auch jeder, der nachweisen kann, sich wie ein anständiger „kritischer Verbraucher“ zu verhalten (Abo der Zeitschrift Stiftung Warentest?) dürfte mit einem Bonus rechnen.

Völlig offen dagegen ist die Frage, wie das Finanzamt jenen Betrag von 50 Euro in der Einkommenssteuererklärung 2002 meiner Ego AG einordnen wird. Wird das als Einkommen gewertet und ist deshalb steuerpflichtig? Oder kann ich es im Gegenteil absetzen als Werbungskosten oder Vorsorgepauschale oder außergewöhnliche Belastung?

Während ich das mal demnächst in der Villa meines Steuerberaters an der Cote d’Azur mit ihm erörtern werde, gucken Sie vielleicht in Ihren Briefkasten, ob diese verflixte Wahlbenachrichtigungskarte endlich eingetroffen ist. Es lohnt sich.

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