Die Blätter fallen leise

Vor 15 Jahren begann bei den US Open die Karriere des Tennisprofis Michael Chang. Zwar zähltder Amerikaner nicht mehr zu den Besten der Welt, dafür aber ist er sich stets treu geblieben

aus New York DORIS HENKEL

Als er vor langer, langer Zeit auf einem Platz am Rande der großen Anlage sein erstes Spiel bei diesem Turnier gewann, war er fünfzehn Jahre und sechs Monate alt. Ein kleiner Bursche mit dicken Waden, der lief und lief und lief – und der mit stoischer Ruhe jede Prüfung bestand. Dieser Sieg des amerikanischen Teenagers Michael Chang in der ersten Runde der US Open 1987 gegen den routinierten, ungefähr doppelt so alten Australier Paul McNamee steht immer noch für den Beginn einer Karriere.

Die große Anlage im Flushing Meadows Corona Park ist seit diesem bewussten ersten Sieg so sehr verändert worden, dass kaum noch eine Ähnlichkeit mit jener von 87 besteht; Chang dagegen sieht eigentlich immer noch so aus wie vor 15 Jahren. Dieselben Waden, fast dieselbe Frisur. Aber die Zeit ist natürlich auch für ihn nicht stehen geblieben. Mit 30 ist er zwar ein wenig jünger als Andre Agassi und Pete Sampras, die ganz Großen seiner Generation, gemessen an all den Meilen, die er in seiner Karriere gerannt ist, hat er aber wohl einen weiteren Weg in den Knochen als die beiden zusammen.

Chang selbst sagt, er erlebe den Herbst seiner Karriere, und die Zahlen sind wie fallende Blätter: Ende vergangenen Jahres gehörte er in der Weltrangliste zum ersten Mal nicht mehr zu den 50 Besten des Welttennis, mittlerweile steht er sogar nur noch auf Platz 133. Was sich leicht erklären lässt mit einer höchst durchwachsenen Bilanz in diesem Jahr von nur fünf Siegen in 20 Spielen bis zum Beginn dieser US Open. Das ist nicht viel für einen, der mal die Nummer zwei gewesen ist auf der Welt und der an einem der berühmtesten Spiele der modernen Tennis-Geschichte maßgeblich beteiligt war: jenem Klassiker im Achtelfinale der French Open 89 in Paris gegen Ivan Lendl auf dem Weg zum späteren Titelgewinn.

Doch dieser Coup mit 17 war in gewisser Weise untypisch, denn vieles von dem, was Michael Chang geschafft hat, spielte sich nicht auf der großen Bühne ab. Mit Akribie und nicht nachlassender Anstrengung versuchte er auszugleichen, was ihm an spielerischem Talent vielleicht nicht so sehr gegeben war. In einer zunehmend bunter und schriller werdenden Umgebung blieb er sich und seinen traditionellen Vorstellungen treu, und vielleicht liegt es auch daran, dass man ihn fast schon vergessen hat.

Und doch tun sich erstaunliche Dinge. Nach all den Jahren des verbissenen Bemühens hat er an sich eine bisher unbekannte Form der Leichtigkeit entdeckt. Nach seinem Sieg in der ersten Runde gegen Francisco Clavet, Sieg Nummer sechs also in diesem Jahr, meinte Chang: „In gewisser Weise ist das untypisch für mich, aber ich bin nun viel entspannter, weil ich weiß, dass ich hier nichts zu beweisen und nichts zu verteidigen habe. Ich sehe die Sache nur noch von Spiel zu Spiel und von Punkt zu Punkt, und das scheint leichter zu sein.“

Was allerdings nicht bedeutet, dass er sich nicht mehr um Verbesserungen müht. „Wenn ich nichts verändere, bedeutet das vielleicht, dass meine Resultate nicht besser werden, und das will ich einfach nicht zulassen“, sagt er. Man mag es glauben oder nicht: Nach mehr als einem Jahrzehnt an der Grundlinie will er nun offensiver spielen; soll bitte keiner sagen, er habe nicht alles probiert. Aber was vielleicht noch erstaunlicher ist: Er versichert, diese Offensive mache ihm Spaß. „In den vergangenen Wochen“, scherzt Chang, „habe ich vermutlich mehr Punkte am Netz gemacht als vorher in meinem ganzen Leben.“

Schwer zu sagen, ob er auch im nächsten Spiel gegen den Schweizer Roger Federer dazu kommen wird. Auszuschließen freilich ist nichts, zumal es mit Federers Verfassung in diesen Wochen nicht zum Besten steht. Chang weiß ziemlich gut, dass sich die Leute erst in zweiter Linie für sein Fortkommen bei den US Open interessieren – wenn überhaupt. Die Menschen verfolgen lieber den Aufstieg der jungen Amerikaner Andy Roddick und James Blake und machen sich Gedanken, wie lange sie Andre Agassi und Pete Sampras wohl noch sehen werden. Doch so etwas hat Michael Chang noch nie gestört, und daran wird sich jetzt garantiert nichts mehr ändern. Herbst hin oder her.