Die ganz normalen Unterschiede

Man schlendert von Soundsystem zu Soundsystem, während sich im Kopf Sätze formen wie: „Dies ist eine imposante Demonstration multikulturellen Selbstbewusstseins ohne jeden Exotismus.“ Auf dem Notting Hill Carnival in London

von DETLEF KUHLBRODT

Nur selten hatte die Sonne geschienen, diesen Sommer in London, und die Menschen hatten verwundert davon gelesen, dass dieser Sommer der wärmste gewesen sein soll seit Jahrzehnten. Dann kam das letzte lange Augustwochenende mit freiem Montag – „Bank Holiday“ –, und man feiert den Höhe- und Endpunkt des Londoner Sommers, den Notting Hill Carnival, die größte und traditionsreichste Street Parade Europas, die als direkte Antwort auf rassistische Unruhen im August 1958 entstanden war. Damals hatte ein rassistischer weißer Mob Jagd auf „Nigger“ gemacht. Die schwarze Community hatte mit Gegenattacken geantwortet; Presse und Regierung hatten den rassistischen Charakter der Unruhen heruntergespielt.

Claudia Jones, eine aus Trinidad stammende Kommunistin, die via Harlem nach London kam, während der McCarthy-Ära in amerikanischen Gefängnissen interniert gewesen war und schließlich des Landes verwiesen wurde, gilt als eine der Erfinderinnen des Carnivals, der bis 1964 in Hallen und im Januar stattgefunden hatte. Rhaune Laslett, ebenfalls eine kommunistische Aktivistin, Krankenschwester, Sozialarbeiterin, organisierte im folgenden Jahr den ersten Carnival auf den Straßen von Notting Hill. Die unterschiedlichen ethnischen Gruppen der ärmeren Gegend – Ukrainer, Spanier, Portugiesen, Iren, Caribbeans und Afrikaner – sollten beweisen, „dass es in unserem Ghetto kulturellen Reichtum gab (…), dass wir keine ,rubbish people‘ sind“ (Laslett).

Mit den Jahren nahmen immer mehr Menschen an dem Umzug teil. Mitte der 70er-Jahre waren es 150.000, mittlerweile sind es etwa anderthalb Millionen. Verwiesen die Kostüme und die Musik anfangs noch auf die alte Heimat, so waren sie in der dritten Generation zum Ausdruck der kulturellen Identität in der einzigen Heimat, die man hat, geworden. Als der Notting Hill Carnival in diesem Jahr plötzlich eine der Hauptattraktionen des Goldenen Thronjubiläums war, die Carnivalisten an der Königin vorbeizogen, war er im Establishment angekommen.

„One people one race“ war das diesjährige Motto. E., ein ehemaliger Hausbesetzer und politisch aktiver Veganer, der im Zentrum des Geschehens wohnt, hatte mich eingeladen, mit ihm den Carnival zu besuchen. Die Lautsprecher des „Rapattack“- Soundsystems waren auf seine Wohnung gerichtet, man verstand sein eigenes Wort nicht mehr, und wenn man die Fenster schloss, schienen die Bässe noch einmal so laut zu sein.

Sonntag ist Childrens Day, Montag ist für die Erwachsenen. Eigentlich unterschied sich das nicht sehr voneinander. Der Sonntag war ruhiger, und am Montag schien die Sonne nicht mehr und die Menschen zeichneten sich noch deutlicher ab unter diesem hellen, hohen, grauen Himmel.

Man schlendert von Soundsystem zu Soundsystem, von UK-Garage zu Rave, zu ausgesprochen wilden Reggaesachen, guckt sich zwischendurch ein paar Trucks und Kostüme an, ist überwältigt von den großartigen Farben in den Straßen, von dem Sound, der so großartig nur zwischen Häusern sein kann. Es ist eng, aber der Enge kann man entkommen. Viele schlendern nur so herum, andere tanzen in Kleingruppen und reiben sich aneinander. Im Kopf formulieren sich Sätze wie: „Dies ist eine imposante Demonstration multikulturellen Selbstbewusstseins ohne jeden Exotismus.“

Die Atmosphäre liegt irgendwo zwischen dem Enthusiasmus der Berliner Love Parades am Ku’damm und der Entspanntheit eines Spaziergangs in einem Urlaubsort am Meer. Keine Spur von der Angestrengtheit eines Sich-nun-unbedingt-amüsieren-Müssens. Die Musik war ausgesprochen jetzt, lebendig und fern aller Multikultiklischees.

Mambo heißt mit Gott sprechen, und Samba heißt zu Gott beten, und dies alte Besetzerzeichen – Kreis um ein N mit Pfeil dran – heißt Quilombo wie der Wagen da und bedeutet „settlement“, sagte E. Viele kifften und tranken, doch Leute im Vollrausch sah man kaum. Eher wenige waren auffällig kostümiert. Das unterstrich die angenehme Normalität der Unterschiede. Es fühlte sich gut an, als Weißer vor diesem wilden Reggaesoundsystem in der Minderheit zu sein. Als es irgendwo eine ziemlich wilde, endlose UK-Garage-Version zum „Tainted Love“-Thema gab, war man kurz davor zu denken: Das ist London. Dann wurde man von einem 50-jährigen Schwarzen wieder mit zu Hause verbunden. Er hatte eine Schalke-Jacke an, lebt im Ruhrgebiet, berichtete von dem letzten Spiel meiner Mannschaft, und ich fragte ihn nicht nach Asamoah.