In der Schimpansenschule

Wenn Affen Kartoffeln waschen und Flughunde zu Geburtshelfern werden: In seinem Buch „Der Affe und der Sushimeister“ zeigt der Verhaltensforscher Frans de Waal, dass auch Tiere Kultur haben

De Waals Blickwinkel: Kultur ist ein Bestandteil der menschlichen Natur

von SEBASTIAN LINKE

Auf der japanischen Insel Koshima haben die Affen gelernt, ihre Süßkartoffeln im salzigen Meerwasser zu waschen und zu würzen. Dieser Brauch geht auf die Affenfrau Imo zurück, die dort in den 50er-Jahren ihre erste Kartoffel in einem Bergbach von schmutziger Erde reinigte. Nach und nach ist das Ritual von allen Affen der Insel übernommen worden und avancierte zum Lehrbuchbeispiel für kulturelle Traditionen im Tierreich. Wie das Beispiel stammt auch der Titel zu Frans de Waals neuem Buch aus Japan: „Der Affe und der Sushimeister – Das kulturelle Leben der Tiere“ beschreibt, wie ein ungetrübter Blick auf tierisches Verhalten deren kulturelles Leben enthüllt.

De Waal versteht unter Kultur die Übertragung von Wissen und Gewohnheiten durch soziales Lernen. So wie der Lehrling in einem Sushi-Lokal durch monatelanges Zuschauen von seinem Meister das Reisballkneten lernt, so lernen etwa junge Schimpansen von ihrer Elterngeneration, Kartoffeln zu waschen oder sich vor Schlangen in Acht zu nehmen. In Japan, wo nicht kategorial zwischen Mensch und Tier unterschieden wird, werden auch Tieren eine Seele, Einfühlungsvermögen und Emotionen zugeschrieben. Hier nahm auch die von de Waal fortgeführte Erforschung tierischer Kultur ihren Ausgang.

Zwei Gründe bewegten den international renommierten Verhaltensforscher zu seinem Buch. Zum einen will er zeigen, wie auch Tiere ein kulturelles Leben führen: Junge Meerkatzen lernen, auf unterschiedliche Alarmrufe für Raubfeinde zu reagieren; Vögel üben ihre spezifischen Gesänge mit ihren Eltern; Affenmütter zeigen ihren Jungen, wie sie mit Steinen Nüsse knacken können. Mit unzähligen, teils autobiografischen Beispielen seiner dreißigjährigen Affenforschung gelingt de Waal diese Aufgabe meisterhaft.

Doch dabei belässt er es nicht. De Waal will einen „überholten westlichen Dualismus“ zu Grabe tragen: die Vorstellung, es bestehe ein Gegensatz zwischen menschlicher Kultur und Natur. Dies mutet geradezu heroisch an. Denn spätestens seit Darwin wird um die Frage, was am menschlichen Verhalten von der Natur bzw. kulturell bedingt ist, eine hitzige Debatte geführt. Rädelsführer in diesen so genannten Kulturkriegen waren meist die Deterministen des einen oder anderen Lagers: Die einen versuchten die kulturellen Eigenschaften des Verhaltens über jegliche genetische Einflüsse zu stellen, wie zum Beispiel die Linksaktivisten der amerikanischen 68er-Bewegung. Im anderen Lager popularisierten vor allem die Soziobiologen wie Richard Dawkins einen genetischen Determinismus, demzufolge jegliches Verhalten von „egoistischen Genen“ gesteuert wird. In den 70er-Jahren wurde die Auseinandersetzung schnell zu einem Politikum. Die Folge ist eine Trennung zwischen der rauen, bösen und auf Konkurrenz ausgelegten biologischen Natur und der sanften, sinnlichen Kultur des Menschen, welche durch Moral, Sitte und Ethik die biologischen Schranken zu überwinden vermag.

De Waal führt einen Kampf gegen beide Parteien. Er beklagt die Trennung in Natur und Kultur als fatales Erbe unserer westlich- christlichen Denkschule, die mit jeweils passenden Argumenten aus der Natur genährt wird. Doch gerade die Ergebnisse der Untersuchungen von Tierverhalten, wie zum Beispiel das Inzesttabu, würden „weder eine radikale Milieutheorie noch eine Denkschule, die von einem reinen Instinktverhalten ausgeht, das durch äußere Einflüsse kaum modifiziert werden kann“, stützen, so der Verhaltensforscher.

Das Inzesttabu ist ein Musterbeispiel für das Zusammenspiel zwischen Anlage und Umwelt. Kulturelle Aspekte, wie erlernte sexuelle Aversion und die Erziehung – einige Kulturen ziehen verschiedengeschlechtliche Geschwister getrennt auf, einige nicht – spielen genauso eine Rolle wie die biologischen: genetische Einflüsse, zum Beispiel die Art und Weise, wie sich frühe Vertrautheit auf sexuelle Präferenzen auswirkt.

De Waal beklagt den „kurzsichtigen Gen-Egoismus“ der Soziobiologen, die jeglichem Verhalten einen „evolutionären Zweck“ unterstellen würden. Mit pointierten Seitenhieben gegen die Neodarwinisten versucht er Charles Darwin („schon immer klüger als seine Anhänger“) in der modernen Verhaltensbiologie neu zu verankern: Darwins Metaphern, wie der Kampf ums Dasein, hätte dieser noch völlig anders gemeint, als die selbst ernannten Apostel im ausgehenden 20. Jahrhundert sie interpretierten. Statt jeglichem Verhalten Ziel und Absicht – im Sinne „egoistischer Gene“ – unterzuschieben, plädiert de Waal für eine Trennung zwischen Funktion und Motivation: „Während zum Beispiel die Funktion mütterlicher Fürsorge darin besteht, ihre Jungen aufzuziehen, ist die Motivation groß genug, diese Fürsorge auch jemand anderem zukommen zu lassen.“ Delfine beschützen Menschen vor Haien, Flughunde dienen sich gegenseitig als Geburtshelfer: Auf die von einigen Verhaltensbiologen eingeführten Anführungsstriche beim Begriff Altruismus könne man deshalb getrost wieder verzichten, so de Waal.

Er hat den Spieß der Verhaltensforschung kurzerhand umgedreht, die sich von Lorenz bis zur modernen Evolutionspsychologie stets bemühte, das Naturhafte am Menschen zu erkunden, und bewegt sich gleichzeitig auf schwierigem Terrain: Natur versus Kultur – an dieser Dichotomie haben sich schon viele Vertreter der Sozial- und Geisteswissenschaften abgearbeitet. De Waal propagiert einen neuen Blickwinkel: Kultur ist ein Bestandteil unserer Natur.

So wie im Laufe der Evolution unsere Sprache, Symbole, Ideen, Werte, ja sogar die Moral sich erst langsam entwickeln konnten, können wir diese „von der Natur gemachte“ Kultur weder Tieren absprechen noch als das deuten, was den Menschen zum Menschen mache. Das Ausmaß, wie wir Kultur erschaffen, ist in der Tat einzigartig, gibt der Tierforscher zu, doch sind auch wir in gleichem Maße Produzenten und Produkte von Kultur. So wie die Affen erst langsam von ihren Vorfahren lernen müssen, sich vor Schlangen zu fürchten, ist es auch für uns ohne Lehre und Unterweisung sinnlos, von Kultur zu sprechen.

Frans de Waal: „Der Affe und der Sushimeister – Das kulturelle Leben der Tiere“. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hanser Verlag, München 2002. 392 Seiten, 21,50 €