Tödliches Räderwerk


von KLAUS HILLENBRAND

Die Probleme begannen mit lautem Dröhnen und unerklärlichen Vibrationen. Schon kurz nachdem die Bahn ihren Hochgeschwindigkeitszug ICE im Juni 1991 eingeführt hatte, beschwerten sich Reisende über Lärm, überschwappenden Kaffee und übergelaufene Suppenteller im Bord-Bistro. Im Selbstversuch überzeugte sich Bahnvorstand Roland Heinisch im September desselben Jahres vom „Dröhnen und Scheppern“ und verlangte beim obersten Bahnchef Dürr „konkrete Abhilfemaßnahmen“.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Schwierigkeiten beim damaligen Bundesbahn-Zentralamt schon aufgefallen. Fieberhaft arbeiteten die Bahner daran, die im Fachjargon „Bistro-Brummen“ genannte Erscheinung zu beseitigen. Eine neue Radkonstruktion sollte helfen. Wenig später rollten die ICEs auf neuen, von den Vereinigten Schmiedewerken hergestellten gummigefederten Rädern des Typs Bochum 64. Das Dröhnen verschwand, der Kaffee blieb in der Tasse.

Die Probleme endeten in einer Katastrophe. Am 3. Juni 1998 um 10.56 Uhr löst sich im ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ auf der Strecke Hannover–Hamburg ein Radreifen im hinteren Drehgestell des ersten Wagens. Eine Überwachung der Radsätze im laufenden Betrieb gibt es im ICE nicht. Drei Minuten später springt das schwere Eisenstück bei Tempo 198 ins Wageninnere. Die entgleiste Achse verstellt selbsttätig eine Weiche am Eingang des Bahnhofs Eschede nach rechts. Die nachfolgenden elf Wagen und die hintere Lokomotive werden so in eine Kurve geschickt, die nur für 60 Stundenkilometer zugelassen ist.

Alles dauert 13 Sekunden

Die Verbindung zwischen der vorderen Lok und dem ersten Wagen reißt. Die Hauptbremsleitung spricht automatisch an, kann aber nichts mehr bewirken. Die entgleisten Wagen 1 und 2 rumpeln auf dem Schotterbett der Gleise und kommen nach rund 350 Metern zum Stehen. Wagen 3 prallt mit dem hinteren Ende gegen einen Brückenpfeiler. Wagen 4 passiert gerade noch die einstürzende Brücke und kippt um.

Wagen 5 stellt sich quer unter die Brücke und zerbricht in zwei Teile. Wie eine Harmonika schieben sich die Waggons 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 14 zusammen – einen Wagen 13 gibt es nicht. Zum Schluss rast die hintere Lok in die Trümmer. Alles hat 13 Sekunden gedauert. 101 Menschen starben, 105 wurden verletzt.

Wer trägt die Schuld? Ist überhaupt jemand schuldig?

Die Staatsanwälte haben 45 Zeugen vernommen, Dokumente beschlagnahmt, 556 Aktenordner angelegt, drei Gutachten in Auftrag gegeben. Verantworten wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung müssen sich von heute an drei Techniker. Thilo von M. (67), ehemaliger Abteilungsleiter des Bundesbahn-Zentralamts, sein Mitarbeiter Volker F. (56) und Franz M. (55), Ingenieur des Radherstellers Vereinigte Schmiedewerke, werden beschuldigt, notwendige Untersuchungen der gummigefederten Radreifen vor deren Betriebseinführung unterlassen zu haben. Die 1. Strafkammer des Landgerichts Lüneburg beim Amtsgericht Celle hat zunächst 22 Prozesstage angesetzt. Es ist absehbar, dass das nicht ausreicht. Denn in einem der aufwändigsten Verfahren der deutschen Justizgeschichte droht ein Gutachterkrieg um die Gefährlichkeit des Rades vom Typ Bochum 64.

Beim Prozess sind auch 32 Nebenkläger zugelassen: Verletzte und Hinterbliebene, denen es um die Verantwortung der Bahn geht. Parallel zum Strafprozess in Celle läuft vor dem Berliner Landgericht ein Zivilverfahren, in dem Verletzte und Hinterbliebene die Bahn auf Schmerzensgeld und Schadensersatz verklagt haben.

Im heute beginnenden Prozess im umfunktionierten großen Kreistagssaal zu Celle soll der Unfallhergang anhand von zwei etwa vier Meter großen Modellen rekonstruiert werden. Weitere Beweismittel wie 100 Meter Gleis vom Unfallort lagern außerhalb.

Was lief schief bei der Zulassung der neuen Räder? Oder war der Unfall unvorhersehbar?

Festzustehen scheint: Das „Bistro-Brummen“, verursacht durch die bewährten, in einem Stück gewalzten so genannten Monoblockräder unter dem ICE, muss den Bahnern einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. „Wenn wir so fahren, springen uns die Kunden ab“, soll ein Bahnmanager zur Eile getrieben haben. Schnelle Abhilfe musste her. Die Wahl fiel auf ein neues, gummigelagertes Modell. In diesem Typ ist zwischen Radscheibe und Radreifen eine Gummieinlage eingebaut, die Stöße und Vibrationen im Wagen verringert. Die Folge ist, dass der Radreifen wie zu Dampflokzeiten an die Radscheibe angepasst werden muss – und, zumindest theoretisch, abspringen kann. Ein Monoblockrad dagegen muss im ganzen Stück zerbrechen, ehe es einen Unfall verursacht. Dass weltweit kein einziger Hochgeschwindigkeitszug mit gummigelagerten Rädern unterwegs ist, war kein Hindernis. Dass selbst Straßenbahnen mit diesen Rädern entgleist waren, wusste man bei der Bahn angeblich nicht.

Die Serienreife des Superrads war eigentlich für 1995 vorgesehen – doch 1992 ging plötzlich alles ganz schnell. Auch auf eine ursprünglich geplante sechsmonatige Erprobungsphase der neuen Räder wurde bewusst verzichtet – auch dann noch, als der Angeklagte Thilo von M. am 24. 8. 1992 notierte, dass ein „gewisses Risiko wegen der fehlenden Betriebserfahrung gegeben“ sei. Denn dieses könne nach dem „derzeitigen Erkenntnisstand getragen werden“. Der Hersteller habe, so die Begründung, die Räder mit „Dauerschwingungsversuchen“ ausreichend getestet. Die Staatsanwaltschaft bezweifelt, dass diese vom Angeklagten Franz M. durchgeführten Tests ausreichten.

Tests mit dem Hammer

Die Kontrollen sollten die Bahner im laufenden Betrieb vornehmen. Allerdings stellte sich heraus, dass bei der Bahn überhaupt kein Gerät vorhanden war, um die besonders belasteten Radinnenseiten zu checken. Es wurde auch keines angeschafft. Tatsächlich, erklärt die Staatsanwaltschaft, hätten die Angeklagten regelmäßige Ultraschalluntersuchungen noch bei Einführung der Räder zur Bedingung gemacht. Ein anderes Radmessgerät produzierte ständig Fehldiagnosen und wurde daher nicht mehr benutzt. Die Prüfung der Räder geschah deshalb wie vor 100 Jahren – per Augenschein und mit Hammerschlägen.

Das Rad sei als „dauerfest“, die Innenseite des Radreifens als „unkaputtbar“ eingestuft worden, argumentiert dagegen Verteidiger Walther Graf. Seine Schlussfolgerung: Nach dem damaligen Stand der Technik waren entsprechende Untersuchungen nicht geboten. „Das Rad war so in Ordung“, davon ist auch die Verteidigerin Susann Westphal überzeugt. Damals, also vor den Unglück, sei es außerhalb des Möglichen erschienen, dass es brechen könnte.

Das Gutachten des Fraunhofer-Instituts, das die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hat, ist vom Gegenteil überzeugt. Doch die Verteidigung wirft dem Institut vor, sich verrechnet zu haben. Graf macht daraus die „kriegsentscheidende technische Frage“. Drei umfangreiche Gutachten der Bahn, denen sich die Verteidigung angeschlossen hat, kommen nach Hinzuziehung japanischer, schwedischer sowie südafrikanischer und deutscher Experten zur Schlussfolgerung, dass das Brechen des Radreifens unvorhersehbar und das Rad vom Typ Bochum 64 folglich für den Betrieb auch im ICE-Dienst geeignet war. Dann wäre niemand schuldig.

Ein ICE-Rad von 92 Zentimeter Durchmesser dreht sich bei Tempo 250 25-mal in der Sekunde. 2.160.000-mal in 24 Stunden. 406 Kilogramm Stahl und ein wenig Gummi, 20 Millimeter dick. Der Radreifen verschleißt dabei, wird langsam dünner wie beim Auto. Das fragliche Rad hatte am 3. Juni 1998 noch eine Dicke von 862 Millimetern, 8 Millimeter oberhalb der Toleranz – festgelegt von zwei der Angeklagten. Schon seit 100.000 Kilometern lief es mit einem unerkannten Riss. Das Rad hat sich nicht um seine „Vollfestigkeit“ gekümmert. So starben in Eschede 101 Menschen.