Von der Cinephilie infiziert

Sie verwandelte Beobachtung in Erkenntnis. Die Filmreihe „Für Frieda Grafe“ nimmt Abschied von der im Juli gestorbenen Kritikerin – mit sieben von ihr geschätzten Filmen, darunter „Young Mr. Lincoln“, „Klassenverhältnisse“ und „Dodeskaden“

von ECKHARD HASCHEN

„Es gibt keine Filme, die das Kino notwendiger brauchen als seine. Das Kino, das heißt: die Leinwand und das Publikum im Saal“, schreibt Frieda Grafe auf einer ihrer berühmten Filmseiten, die sie in den siebziger und achtziger Jahren für die Süddeutsche Zeitung (SZ) verfasste, über die Filme John Fords. So ist dessen Young Mr. Lincoln von 1939, der in einer blitzblanken 35mm-Kopie gezeigt wird, der ideale Auftakt für eine Filmreihe zu Ehren der am 10. Juli im Alter von 68 Jahren gestorbenen Filmpublizistin Frieda Grafe.

Heiner Roß, der Leiter des Metropolis und der Kinemathek Hamburg, versteht die sieben Filme, die bis zum 12. September laufen, als persönlichen Abschied von der Essayistin, deren Texte nicht nur viele Autoren, die ihr nachfolgten, inspiriert haben, sondern eben auch Programmmacher von kommunalen Kinos und Festivals. Denn Grafe, die unter anderem in Paris Romanistik studiert hatte, verfügte nicht nur über eine geradezu enzyklopädische Allgemeinbildung, sie hatte sich auch schon früh von der Cinephilie infizieren lassen, jener in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg entstandenen, bisweilen manische Formen annehmende Kinobegeisterung, die sie fast im Alleingang nach Deutschland importierte.

Mit dem Schreiben über Film hatte sie 1961 in der Zeitschrift Filmkritik begonnen, deren Mitbegründer Enno Patalas sie im Jahr darauf heiratete. Mit ihrem vom Strukturalismus eines Roland Barthes inspirierten Blick brachte sie einen neuen Ton in ein Blatt, das bis dahin von an Frankfurter Schule und den Arbeiten Siegfried Kracauers geschulter Ideologiekritik geprägt war. Immer wieder schrieb sie über die Regisseure der Nouvelle Vague, deren erfrischenden Blick auf die Welt und deren lustvolles Spiel mit Zitaten sie bewunderte.

In den 70er Jahren publizierte Grafe immer ausgefeiltere Essays, so über Carl Theodor Dreyer und dessen in die Reihe aufgenommenen Dies Irae – Tag der Rache von 1943: „Dreyer weckt mit dem Kino Tote auf. Aber man muss noch einen Schritt weitertun, um ihm zu folgen. Mit dem Kino zeigt er nicht nur die Realität, sondern auch die Zeichenhaftigkeit der Realität.“ Immer wieder spürte Grafe in ihren Texten dem komplizierten Verhältnis von Filmbild und Realität nach, am ausführlichsten anhand der Filme von Lang und Murnau. Daneben schrieb Grafe aber auch kurze Filmtipps für die SZ, in denen ihre Reflektionen oft extrem verdichtet daherkommen. So etwa über Buster Keatons The General: „Amerikanische action durch Burleske relativiert. Die Mechanik des Kinos in ihrer Konstruktionsphase.“

Ebenso sehr wie die Lichter und Schatten des schwarz-weißen Kinos liebte Frieda Grafe den Farbfilm, vor allem dann, wenn die Farbe nicht wie üblich realistisch daherkommt, sondern als „Instrument der Erkenntnis“ (H. Roß) eingesetzt wird, wie etwa bei Hitchcock. Die von ihr geschätzten Will Success Spoil Rock Hunter? von Frank Tashlin und Dodeskaden, Akira Kurosawas ersten Farbfilm von 1970, haben Eingang in die Reihe gefunden.

Grafes seit den späten 80ern entstandene Texte und Vorträge zum Farbfilm versammelt das soeben erschienene Buch Filmfarben. Darin analysiert sie die verblichenen Farben der DDR in Hitchcocks Torn Curtain, diejenigen Indiens in Renoirs The River sowie Douglas Sirks Technicolor-Melodramen. Der mit schönen Farbseiten ausgestattete Band enthält außerdem „Die Geister, die man nicht mehr los wird“, Grafes 40-seitigen, für die Film Classics-Reihe des British Film Institute geschriebenen Aufatz über The Ghost and Mrs. Muir von Joseph L. Mankiewicz.

Über fast vierzig Jahre lang hat Frieda Grafe versucht, die formstrengen Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet dem Publikum nahe zu bringen. Zu Klassenverhältnisse nach Kafkas Amerika-Roman Der Verschollene: „Die Straubs verfilmten ihn natürlich nicht. Der Film ist eine Darstellung oder auch Aufführung, in Hamburg aufgenommen.“ Ebenso zugetan war Grafe den experimentellen Arbeiten von Heinz Emigholz, von denen Der zynische Körper gezeigt wird.

Vor zwei Jahren erhielten Frieda Grafe und Enno Patalas für ihr Lebenswerk den „01-Award“ der Hochschule der Künste in Berlin. 1980 hatte Grafe den seither nicht mehr verliehenen Hanser-Preis für Film-Essayistik bekommen – für den Aufsatz: „Realismus ist immer Neo-, Sur-, Super-, Hyper-: Sehen mit photographischen Apparaten“.

Young Mr. Lincoln: So, 17 Uhr + 10.9., 19.15 Uhr; Dies Irae: Mo + 9.9., 17 Uhr; Klassenverhältnisse: Mo, 19 Uhr + 10.9., 17 Uhr; Dodeskaden: Mi + 10.9., 21.15 Uhr; The General: 5. + 6.9., 17 Uhr; Will Success Spoil Rock Hunter?: 6.9., 19 Uhr + 12.9., 17 Uhr; Der zynische Körper: 9.9., 19 Uhr, Metropolis Frieda Grafe, Filmfarben, 146 S., 21 Euro