Keinen Bock auf Bürger

Seit drei Jahren sind in Friedrichshain die Kneipen zu laut. Dem Bezirksamt sind die rechtswidrigen Zustände schon lange bekannt, die Behörde handelte aber nicht. Stattdessen wurde sogar versucht, Anwohner umzusiedeln

Um ungemütliche Anwohner zum Schweigen zu bringen, scheuten die Behörden in Friedrichshain-Kreuzberg nicht vor unkonventionellen Mitteln zurück. Im September 2001 bot ein Beamter des Wirtschaftsamtes Martina Schneider (Name geändert) per E-Mail zwei Umsetzwohnungen an. Er pries den Umzug in eine ruhigere Straße als „knackige Lösung ihres Problems“ an. Schneider sah sich die Wohungen an, doch sie hätte 350 Euro mehr bezahlen müssen. Zu viel für ihr Budget, auch wenn die Aussicht auf durchgehenden Schlaf lockte. Sie antwortete: „Darauf haben wir schon jetzt, hier und heute ein Recht!“. Sie kämpfte weiter, bis heute.

Als Baustadtrat Franz Schulz (Grüne) und Wirtschaftsstadtrat Lorenz Postler (SPD) im April 2001 ihre Ämter antraten, setzten Martina Schneider und andere Anwohner des Boxhagener Kiezes neue Hoffnung in das frische Personal. Sie schrieb zwei freundlich formulierte Briefe, in denen sie die Neulinge auf die rechtswidrigen Zustände im Kiez hinwies: Die Lärmbelästigung übertreffe das erträgliche Maß, und der ausgehandelte Kompromiss, Sperrstunde um elf und an Wochenenden um zwölf Uhr, hielt nur eine kleine Minderheit der Wirte ein. Eine Antwort auf ihre Briefe erhielt sie nicht.

Zuvor wanderte Martina Schneider schon vom Umweltamt aufs Tiefbauamt, vom Tiefbauamt zum Wirtschaftsamt, wo sie erneut aufs Umweltamt verwiesen wurde. Im Juli 2001 bewirkte ihre Beschwerde zumindest eine Lärmmessung des Umweltamtes. Der Lärmpegel überschritt die Richtwerte durchschnittlich um 25 Dezibel, die Maximalwerte überstiegen die Lautstärke einer Disco. Das Umweltamt warnte vor „Folgeerscheinungen für die Gesundheit“. Auch auf dieses Gutachten reagierten die Behörden nicht. „Kaum vorstellbar, wie viele Beschwerden wegen Kneipen hier ankommen“, sagt Baustadtrat Schulz. Die Bearbeitung solcher Beschwerden sei mühselig.

Dabei wussten die Behörden schon lange, dass sie in der Simon-Dach-Straße rechtswidrige Zustände dulden. Der taz liegt eine interne Stellungnahme des Rechtsamtes aus dem April 2000 vor, die das belegt: „Aufgrund der vom Umweltamt festgestellten (…) nicht zu legalisierenden Lärmbelästigung zur Nachtzeit liegen die rechtlichen Voraussetzungen vor, um die vom Wirtschaftsamt nur angedrohte Sperrzeitvorverlegung anzuordnen.“ Über zwei Jahre geschah jedoch nichts. Die 22-Uhr-Regelung, die in diesen Tagen greifen wird, ist die erste Maßnahme des Bezirksamts – trotz dauernder Beschwerden von geplagten Anwohnern. In den vorigen zwei Jahren erteilte das Wirtschaftsamt sogar noch weiteren 40 Kneipen eine Lizenz.

„Das ist politisch gewollt“, interpretiert der Anwalt Sebastian Bartels die Untätigkeit der Behörden. Schulz erwidert: „Wir versuchten die Interessengegensätze zu überwinden.“ Dass die Kneipen den Bezirk aufgewertet haben, bestreiten auch die Anwohner nicht. „Der Schutz der Bewohner steht aber rechtlich über der Gewerbefreiheit“, sagt Anwalt Bartels. Deshalb versuchte Schulz, mit der neuen Sperrstunde eine Klage abzuwenden. Denn die Anwohner haben immer Recht, zumindest im Boxhagener Kiez. Hier handelt es sich um ein Milieuschutzgebiet. Das bedeutet, dass die Behörden besonders auf die Erhaltung der Bevölkerungsstruktur achten sollen. „Es ist aber schwierig zu beweisen, dass sich die Bevölkerung nur wegen der Kneipen verändert“, verteidigt sich Schulz.

SIMON JAEGGI