stimme der korrektur: radikale gemeinschreibung
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die feder hieß einst die journalistenzeitschrift der industriegewerkschaft druck und papier. sie übte sich, gestreift vom antiautoritären „68“, in gemäßigter kleinschreibung und gab so den kleinbuchstaben, in der druckersprache auch minuskeln oder gemeine genannt, ein angemesseneres gewicht.

die neugestalter der rechtschreibung verweigerten sich natürlich der durchsetzung solch demokratischer verschriftung, aus der renaissance als „humanistischer stil“ bekannt. zudem zwingen uns die albernheiten neumarktwirtschaftlicher schreibungen auch noch zur gehäuften verwendung von Großbuchstaben, den Majuskeln.

so müssen wir den monopolistischen bestrebungen des energiekonzerns E.ON nachgeben oder mit dem sozialdemokratischen fordergesetz Job-AQTIV nicht nur die verletzung der rechte arbeitsloser, sondern auch die der orthografie hinnehmen.

bei WorldCom, dem weltgrößten telefonkonzern, steht die binnenMajuskel C jetzt für CHEAT, oder Großer Betrug. dessen kreativer buchführung werden nun 20.000 arbeitsplätze, die ersparnisse der kleinen und wohl die betriebsrenten dargebracht.

in südafrika opferte der ANC auf dem altar der New Economy sein wahlversprechen, kostenlos elektrizität für alle zur verfügung zu stellen. dafür kann der stromkonzern ESKOM Majuskelprofite machen. zahlen unternehmen 7 cent für die kilowattstunde, reiche menschen aus den vororten 18 cent, kostet sie die minuskeln sowetos 26 cent. und da sie nicht so viel bezahlen können, weil etwa vierzig von hundert menschen arbeitslos sind, wird jeden monat etwa zwanzigtausend der strom abgestellt. und da sie die logik des profits vor menschen nicht teilen, gibt es das elektrizitäts-krisenkomitee der gemeinden sowetos und seine „licht an“-kommandos: techniker, die die leitungen wieder reparieren. weil „es besser ist, das gesetz zu brechen als die armen“.

dieses vergehen am Markt soll demnächst in johannesburg mit einem prozess gegen dutzende aktivisten geahndet werden, während der frühere finanzchef von WorldCom seine 15-millionen-dollar-villa in florida mit 117 fenstern ausbaut.

das erinnert mich wieder an die feder und wie mit der abschaffung der demokratischen kleinschreibung die Neue Liebe zu den Großen einherging. dabei wurde über jahrhunderte die minuskel entwickelt, um schriften zugänglicher zu machen. mir scheint das immer noch klug, nicht nur im interesse von korrektorinnen: die ersetzung der majuskelherrschaft durch eine radikale gemeinschreibung – ähnlich wie in soweto. rosemarie nünning