das scheitern der senatorklasse an sich selbst von WIGLAF DROSTE
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Noch gibt es ihn, den ICE-Speisewagen, und es wird dort eine Ananas-Chili-Suppe angeboten, die, obwohl von der Bahn „Chilli“ geschrieben, sogar sehr essbar ist. Kaum jedoch bewegt sich die Bahn punktuell einmal in Richtung Erträglichkeit, will sie das unbedingt ändern und die ICE-Speisewagen verkleinern und langfristig ganz abkoppeln. Bahnkunden wissen längst, dass der Bahn ihr Schicksal grundegal ist. Trotzdem sage ich: Mir den Speisewagen nehmen heißt mich in temporäre Obdachlosigkeit stoßen. Ich lebe da nämlich.

Und kann dort besser als irgendwo sonst das Leben in seiner ganzen Pracht begneisen. Am Nebentisch nehmen zwei Frauen Platz, Kolleginnen offensichtlich, und ratschen über die Freuden und Ärgernisse des Tages. Eine der beiden ist auffallend hübsch, ihr Gesicht verspricht Klugheit und Humor, sie hat Sonne in der Stimme, und ihre Figur verheißt dem Mann ihrer Wahl jede Menge Wonne.

Das nimmt offenbar auch ein berufsbeschlipster Mann so wahr, der allerdings gleich indezent am Tisch stehen bleibt und vollautomatisch das Angraben anfängt. Dabei macht er, mir zur Freude, alles falsch. Gern sehe ich, wie sich die Sorte Mensch, die sich als Senatorklasse spreizt, kräftig auf den Pinn legt. Das kann der Mann im Speisewagen richtig gut. Ausladend stellt er sich auf, breitbeinig, und fährt die Armspannweite aus. Dass zwei Frauen am Tisch sitzen, ignoriert er geflissentlich. Er sieht und spricht ausschließlich die als Beute Auserkorene an; mit dieser groben Unhöflichkeit hat er sich die Karten gelegt und weiß es nicht. Wie heißt es so schön: Sieger erkennt man am Start.

Ruhelos schwallt er auf das Objekt seiner Begierde ein: Schon auf der Hinfahrt nach Berlin am Morgen habe er sie gesehen, ob sie die Strecke öfter fahre, was sie denn tue, ah, Klinikum, Ärztin vielleicht?, Krankenschwester?, nein, im Controlling-Bereich, ach ja, ob sie vielleicht eine Visitenkarte …?

Dass er ihre Karte nicht bekommt, hält ihn überhaupt nicht davon ab, ihr seine aufzudrängen, und seinen Status gibt er ungebeten dazu: Manager bei der WinGas ist er, und deshalb kann er sein Einbahnstraßengerede mit einer Depesche von allergrößter Wichtigkeit krönen: „Wir beziehen 20 Prozent unseres Gases aus England und 80 Prozent aus Russland.“ Er scheint das für unwiderstehlich interessant zu halten und missversteht die höflichen Antworten als Aufforderung zum Weiterquälen. Doch es fruchtet nichts, irgendwann muss er den Baggerplatz aufgeben – um allerdings zwei Minuten später aus der ersten Klasse zurückzukehren und mit einer Einladung zum Kaffee aufzuwarten. Auch die wird höflich, aber für jeden außer ihm schon äußerst deutlich abgelehnt.

Irgendwann aber hat sogar er es begriffen und macht sich, um Restwürde ringend, vom Acker. Auch die beiden Frauen steigen aus, nur eine Visitenkarte bleibt einsam auf dem Tisch. Die habe jetzt ich, und wenn ich das nächste Mal Lust habe, mich ganz schrecklich aufzuführen, werde ich sie anschließend zurücklassen: Dr. Frank, der Erdgaseinkäufer, dem die Frauen vertrauen.