Eine Hymne auf die Solidarität

Hochwasser-Debatte im Bundestag: Helfen wollen alle. Schröder durch mehr Steuern, Stoiber durch mehr Zinsen. Und schon ist wieder Wahlkampf

aus Berlin HANNES KOCH

Das Hochwasser beweist, dass Rot-Grün die richtige Regierung für Deutschland ist. Diese Botschaft verpackte Bundeskanzler Gerhard Schröder gestern in seine 45-minütige Regierungserklärung vor dem zu einer Sondersitzung zusammengekommenen Bundestag. Regierung wie Opposition nutzten die Stunde für eine Generalabrechnung.

Schröder wählte den behutsamen Ton der Empathie und bediente sich bei den präsidialen Stilelementen eines Johannes Rau. Er gab den Kanzler, der alle mit seinen weiten Armen umfängt, Rat gibt und Mut zuspricht. Zweieinhalb Wochen nach den Unwettern rückt für Schröder das Hochwasser in den Hintergrund im Vergleich zu den „wunderbaren Erfahrungen“ danach. Für ihn kommt die „Welle der Solidarität“, die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung, die 130 Millionen Euro private Spenden der „Wiedergeburt der zivilen Gesellschaft“ gleich. Endlich gelten wieder die sozialdemokratischen Werte wie Gemeinsinn und Engagement für das Kollektiv. Der neoliberale Egoismus ist passé – zumindest für ein paar Wochen. Schröders Rede war gespickt mit Begriffen wie „Völkerfamilie“, „Zusammenhalt“ und „Einheit“. Alle helfen allen, das Ausland dem Inland, die Pfälzer den Sachsen, die Bundeswehr der Feuerwehr, der Sandsackschlepper dem Bäckermeister hinterm Deich. „Dieser Gemeinsinn ist ein Schatz, den wir zu hüten und zu mehren haben“, jubelte der Kanzler. Und die Regierung tut das Ihre, sagt Schröder: „Mit dem Hilfsfonds gibt die Bundesregierung der Solidarität einen Rahmen.“

Denn deshalb war der Bundestag gestern eigentlich zusammengetreten: Er sollte in erster Lesung das Hilfspaket diskutieren, das die Verschiebung der für den 1. Januar 2003 geplanten Steuererleichterungen um ein Jahr und diverse andere Maßnahmen der Geldbeschaffung beinhaltet. Insgesamt will Rot-Grün rund zehn Milliarden Euro mobilisieren.

Im Gegensatz zu dem eher leisen Schröder setzte Edmund Stoiber das Fernsehduell vom vergangenen Sonntag mit erneuerter Energie fort. Er ritt eine Generalattacke gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Regierung, für die das Hochwasser allenfalls den Untergrund bildete.

Zwar will die Union das Paket der Bundesregierung notgedrungen mittragen, weil eine Ablehnung im Bundesrat die Hilfen verzögern wurde. Trotzdem kritisierte Stoiber die Regierungspolitik in zwei Punkten massiv. Zum einen sei die Höhe der Aufbaugelder nicht ausreichend, mehr als zehn Milliarden Euro seien nötig. Stoiber erinnerte Schröder an dessen „großes Wort“, niemand solle nach der Flut materiell schlechter gestellt sein als vorher. Der Kandidat zitierte genüsslich einen Kronzeugen aus der Kanzler-Partei. Auch Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel zieht öffentlich in Zweifel, ob das jetzt bereitgestellte Geld alle Probleme lösen kann. Eines blieb Stoiber freilich schuldig: eine Idee, wie mehr Geld aufzubringen wäre.

Gabriel sollte auch Stoibers Kronzeuge für die Idee sein, Flutschäden aus den Bundesbankgewinnen zu finanzieren. Im Manuskript einer Landtagsrede hatte der SPD-Politiker diesen CDU-Vorschlag noch begrüßt, in der am Mittwoch tatsächlich gehaltenen Rede aber wohlweislich auf die Passage verzichtet.

Stoiber warf der Regierung vor, mit großem Ethos doch wieder nur zum alten sozialdemokratischen Mittel der Krisenbewältigung zu greifen: einer „Steuererhöhung“. Die Union qualifiziert die Verschiebung der Steuererleichterung als Anhebung von Abgaben – im Verhältnis zum Plan von Rot-Grün, auf den sich Privatleute und Wirtschaft eingestellt hätten. Der CDU-Kanzlerkandidat rechnete vor, dass auch Familien in Ostdeutschland mehr Steuern bezahlen müssten als ursprünglich geplant: „Das finden die Opfer der Flut ungerecht.“ Deshalb sei es besser, sieben Milliarden Euro aus dem Geschäftsgewinn der Bundesbank abzuzweigen. Dass dieses Geld dann nicht der Schuldentilgung dienen kann, macht Stoiber nichts aus: „Lieber höhere Zinsen als höhere Steuern.“ Hohe Steuern aber bedeuten schlechte Konjunktur und große Arbeitslosigkeit. Damit hat Stoiber den Sündenbock: Rot-Grün ist Schuld an der Wirtschaftskrise – nicht die Weltwirtschaft.