Rad außer Kontrolle

Bahn versagte bei der Kontrolle der abgefahrenen Räder des ICE. Automatisches Kontrollsystem machte „klassische Fehlmessungen“

HANNOVER taz ■ Im Strafprozess um die ICE-Katastrophe von Eschede sind zu Beginn der Beweisaufnahme Mängel bei der technischen Kontrolle der Hochgeschwindigskeitszüge offenbar geworden. Nach Angaben eines BGS-Beamten, der als zweiter Zeuge geladen war, gab es bei der Überwachung der Durchmesser der 48 Radsätze des verunglückten ICE haufenweise Fehler. Bei der letzten Kontrolle durch das automatische ULM-System gab es bei der Mehrzahl der Radsätze „klassische Fehlmessungen“ des Systems, wie der Zeuge Uwe Rölcke sagte. Demnach stellte das Kontrollsystem fälschlicherweise bei der Mehrzahl der Räder ein Anwachsen der Durchmesser gegenüber der letzten Messung fest. Zum Teil sollten die Räder, die als Verschleißteile im laufenden Betrieb langsam abgefahren werden, sogar einen bis zu drei Zentimeter größeren Durchmesser als neue ICE-Radsätze haben.

Nebenkläger Reiner Geulen, der in Celle vor der auswärtigen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg überlebende Opfer des Unglücks und Hinterbliebene vertritt, sprach nach der Zeugenaussage von einer offensichtlichen Mitschuld der Deutschen Bahn an der Katastrophe, die durch den Bruch eines stark abgefahrenen Radreifens eines gummigederten ICE-Rades ausgelöst wurde. Die ICE-Räder seien nicht richtig auf Verschleiß kontrolliert worden, sagte der Anwalt. Die Katastrophe von Eschede sei angesichts der Kontrollmängel kein zufällige Unglück. Auch an anderen ICE-Radreifen seien später verborgene Risse endeckt worden.

Für Anfang Oktober kündigte Rechtsanwalt Geulen eine Sammelklage von 70 Opfern der ICE-Katastrophe vor einem Gericht in New York an. Die Klage werde US-Anwalt Ed Fagan für eine US-Bürgerin einreichen, die bei der Katastrophe von Eschede schwer verletzt wurde. In dem Prozess in Celle, in dem sich zwei Bahnmitarbeiter und ein Mitarbeiter des Herstellers gummigefederter ICE-Räder wegen 101-facher fahrlässiger Tötung und 105-facher fahrlässiger Körperverletzung verantworten müssen, soll es kommende Woche um die Beanspruchungsgeschichte des gebrochenen ICE-Rades gehen.

JÜRGEN VOGES