Dieser Sommer in Bosnien

Dragojana Grgic, eine Journalistin aus Bosnien, berichtet von einer Reise in die alte Heimat Sarajevo, wo die Freunde schneller altern und Besucher sich schämen für ihre sonnengebräunte Haut

In der Stadt meiner Jugend tut jede Ruine mehr weh als anderswo

Die Sonne scheint ungnädig, als wir den Grenzübergang zu Bosnien endlich erreichen. Obwohl die Passkontrolle problemlos vergeht, sind wir sehr angespannt. Wir haben vorher schon Einiges an dieser Grenze erlebt.

Je tiefer wir ins Landesinnere fahren, desto mehr Verwüstung und Elend kommt zum Vorschein. Der Asphalt ist schon längst für die Reparatur fällig, Müllhaufen überall am Straßenrand fangen den Blick. Völlig zerstörte Häuser wechseln mit Neubauten, die meist aber auch leer und verlassen wirken. Geldmangel hat wahrscheinlich den Weiterbau gestoppt. Nur wenige Glückliche haben hier Arbeit.

Die Landschaft ist schön, für diejenigen die zum erstenmal hier sind besonders faszinierend: Der große grüne Fluss Neretva schlängelt zwischen den felsigen, teilweise ganz weißen Bergen. Kilometerlang. Dann plötzlich wechselt die Landschaft und die Berge werden grün, die Wiesen stehen voll mit bunten Blumen und saftigem Gras. Nur die Kühe fehlen. Aber einige Schafherden sind doch zu sehen, Hirten nur selten. Einen beobachten wir am Straßenrand. Er wirkt uralt und wie zerschlagen über seine Zigarettenschachtel hingebeugt, tief in sich selbst versunken, als ob ihn die Herde gar nicht interessiert.

„Wem gehören die Schafe?“, fragen wir, nur um ins Gespräch zu kommen. Er blickt uninteressiert hoch, betrachtet unser Auto, zündet seine Zigarette an. „ Zwei sind meine, andere gehören den Nachbarn, sie haben niemanden, der sie hüten kann, deswegen mache ich das. Ich habe sowieso nichts Anderes zu tun. Wieso fragt ihr? Wollt ihr ein Tier kaufen?“ Dann spricht er weiter. Fast alle Leute aus dem Dorf sind weg. Junge Leute sowieso. Keiner hütet mehr die Herden. Die Angst von Minen ist vielleicht ein Grund. Aber es gibt auch nichts, was die Menschen hier halten könnte, weder Arbeit noch Geld. „Diesem gottverlassenen Land haben die Menschen den Rücken gekehrt“, sagt er, als wir schon wieder ins Auto steigen.

Während der Fahrt sind alle ein bisschen deprimiert, aber nicht lange. Wir erreichen Mostar, eine Großstadt, die während des Bosnienkrieges sehr gelitten hat und sich nun nur schwer von den Kriegswunden erholt. Hier gibt es Leben!

Die Straßen wimmeln von Menschen, die wie in einem Bienenhaus summen. Autos, die man in Deutschland nur als Schrott bezeichnen könnte, fahren ununterbrochen hin und her. In Bosnien hat schon Prestige, wer überhaupt ein Auto besitzt. Marke und Alter sind völlig unwichtig. Die Straßencafés sind voll, sogar viele junge Menschen sind zu sehen, die lachen, mit Handys in der Hand, Mädchens laufen vorbei, schön und anscheinend unbesorgt. Aber, wenn man den Blick von der Straße nach oben richtet, erschreckt man: Zerbombte Fassaden hängen über den Köpfen dieser Menschen. Alle Häuser im Stadtzentrum, ohne Ausnahme, sind total zerstört und drohen jede Minute abzustürzen. In den Kellern dieser Ruinen sind jetzt Cafés, Läden und Banken entstanden. Ganz modern, westeuropäisch, glitzernd. Die Menschen scheinen sich an diesen Kontrast gewöhnt zu haben. „Das Leben geht weiter“, sagt uns ein Passant. „Unter den Ruinen wachsen wieder Blumen“, lächelt er fast amüsiert über unsere Bestürzung. Uns erscheint das Bild trotzdem unheimlich, gruselig und unwirklich. An jeder dieser gefährlichen Fassaden hängt ein großes Warnschild: „Vorsicht! Einsturzgefahr!“ Eine einmalige Stadt an den Toren Europas. Das Bild werden wir noch lange in unserem Gedächtnis bewahren.

An der Peripherie werden Hunderte von Häusern gebaut. „Woher kommen die Gelder?“, fragen wir uns nur flüchtig, weil schon die nächste Sache unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, an der Schnellstraße Richtung Sarajevo, die an beiden Seiten von großen, überdimensionalen Plakaten von Cola, Siemens und Anderen gesäumt ist. Nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick, aber auf den zweiten schon, sieht man dazwischen doch auch große Warnplakate, mehrere Meter hoch, mit solchem Text: „Alle Kriegsverbrecher sind gleich, haben kein Gesicht und kein Nationalität!“ Dem entsprechend sind auf den Plakaten einige gemalte Gesichter, maskenhaft und ausdruckslos, mit gekritzelten Augen und Mündern zu sehen. Daneben ein anderes Plakat: Eine vergrößerte Gewehrpatrone, darunter der Text: „Nur eine solche Kugel reicht, um alles zu verlieren. Geben Sie versteckte Waffen zurück!“ Für uns Neulinge erschreckend, für die Einheimischen normal, gehört das zum Leben hier wie vieles andere.

Bevor wir uns von diesem Gedanken lösen können, erreichen wir Sarajevo, die Hauptstadt, die Stadt meiner Jugend und meiner Studententage. Die Erinnerungen werden wach. Hier tut jede Ruine ein bisschen mehr weh als anderswo. Aber Sarajevo hat sich sichtlich vom Krieg erholt. Da blüht das Leben und die Ruinen werden schnellstens beseitigt. Die Leute zieht es in die wenigen Großstädte, meist in der Hoffnung, eine Arbeitsstelle zu finden. Der Rest des Landes bleibt unbewohnt und gespenstisch leer. Aber wo eine Arbeit finden?! Vorsichtige Schätzungen sprechen von über 75 Prozent Arbeitslosen! Die Zahl spricht für sich. Wenn wir anhalten, mit unseren deutschen Nummernschildern, können wir uns kaum noch vor ausgestreckten Händen retten, die um Almosen bitten. Das Elend ist aus diesem Land noch lange nicht vertrieben.

Wir machen eine längere Pause in Sarajevo, bevor wir weiter fahren. Während sich meine deutschen Begleiter einige Eindrücke über Sarajevo zu verschaffen versuchen und einen kleinen Spaziergang machen, besuche ich wenige alte Freunde, die noch in Sarajevo geblieben sind. Ihre mehr als einfache Behausung, die bescheiden gekleideten Kinder und besonders ihre Geschichten machen mir noch lange zu schaffen.

„Meine Tochter ist während des Krieges im Keller geboren. Deswegen sieht sie so mager und blass aus. Sie will gern einmal ans Meer“, antwortet meine alte Studienfreundin auf meinen fragenden Blick, als ich ihre kleine Tochter zum ersten Mal sehe. Ich versuche, meine sonnengebräunte Haut irgendwie zu verstecken und voller Scham und Schuldgefühle mich mit vielen Geschenken dafür zu entschuldigen, dass ich jetzt ein anderes Leben habe. „Wir haben es unheimlich schwer. Mein Mann war Soldat, ihm wurde damals Vieles versprochen. Und nun haben alle ihn vergessen. Ich habe eine kurze Zeit gearbeitet, aber als ich die Kleine bekommen habe, wurde ich entlassen. Aber was soll`s, ich werde wieder etwas finden. Ich habe schon eine Idee, wenn die Kinder etwas älter sind,“ erzählt sie weiter mit ruhiger Stimme.

Sie hat sich so verändert, ist alt geworden, dabei ist sie erst 37. Alle ihre Zähne hat sie durch mangelnde Ernährung in der Schwangerschaft verloren. Ihr Aussehen, ihr ganzes Leiden, scheint mir ein Spiegelbild von Bosnien zu sein. Allem zum Trotz hat sie ihre Ruhe und Hoffnung nicht verloren. Dragojana Grgic