4 Damen mit 30 Blockflöten

Hören und gesehen werden. Atmosphäre und Wetter stimmten bei der „großen Nachtmusik“. Auch die Musiker waren wunderbar. Nur die Programmhefte – die stimmten nicht

Wie Literatur, aus dem Schlaf aber doch mit rasantem Tempo gespielt

Der jahrelang beklagte Mangel eines Konzeptes im Musikfest kann man nun vielleicht als beendet bezeichnen, denn das Musikfest ortet sich jetzt eindeutig: Nicht mehr musikalische Konzepte sind gefragt, sondern die gesellschaftliche Situierung in der ganzen Region. „Hören und gesehen werden“ heißt das verbale Motto.

50 Prozent der Konzerte finden nicht in Bremen statt. Zunächst aber ist vom Eröffnungsabend „eine große Nachtmusik“ zu berichten, der wie im vergangenen Jahr an acht wunderbar beleuchteten Aufführungsorten in der Innenstadt 24 Konzerte brachte. Das Wetter trug dazu bei, dass die Atmosphäre stimmte, das Niveau der unterschiedlichen Aufführungen und unterschiedlichen Musikstilen stimmte sowieso.

Überall also ausverkaufte Konzerte: im Dom, in der Kirche Unser Lieben Frauen, in der Glocke, im Schütting, im Landgericht, im Kontorhaus am Markt und im Rathaus, besetzt von Menschen mit gut gelaunten Gesichtern, die sich gelegentlich zu Recht verdüsterten, als sie bemerkten, wie mangelhaft die Informationen im Programmheft waren. Diesen Schönheitsfehler – das Fehlen jeglicher Texte und Übersetzungen bei italienischen Texten – zeichnete schon das letzte Jahr aus, und das erledigt sich leider nicht durch Wiederholung.

So ist es eine Zumutung, ein Werk wie Claudio Monteverdis „Combattimento die Tancredi e Clorinda“ nach dem Text von Tasso nur übers Hören vermittelt zu bekommen. Das gilt auch, obschon die Interpretation von „Il Giardino Armonico“ so uneingeschränkt fantastisch war, dass man die Affekte samt und sonders heraushören konnte: Kampf, Liebe Tod. Nuria Rial, Sopran, Fulvio Bettini, Bariton, und Antonio Abete, Bass, sangen mit geistvoller Deklamation und betörender Klangschönheit. Sie waren bestens unterstützt von den sechs Musikern, die mit einer erstaunlichen Fülle Klangfarben aufwarteten, mit denen Monteverdi die tragische Kampf- und Liebesgeschichte zwischen dem Christen Tancredi und der Heidin Clorinda erzählt.

Antonio Abete, der den sensationell tiefen Bass hat, den Monteverdi häufig verlangt, sang außerdem einen Teil aus den „Madrigali guerrieri“: eine Lust für sich, diesem tiefen und gleichzeitig flexiblen Bass zu folgen. Die Geiger Marco Bianchi und Stefano Barneschi verzauberten mit explosiver Spielfreude durch Instrumentalsonaten von Marco Uccellini und Biagio Marini.

Die vier jungen Damen mit den dreißig Blockflöten nennen sich „Flautando Köln“ und machen seit geraumer Zeit eine erstaunliche Karriere. Während sie mit zwei zeitgenössischen Stücken von Tosten Wilke Müller und Dick Koomans eher äußerst fragwürdigen Kram spielten, zeigten sie in Werken von Telemann, Vivaldi und Purcell und einer fabelhaften anonymen Zugabe aus dem 14. Jahrhundert den ganzen Radius ihres Ansatzes: die Entwicklung von individuellen „Explosionen“ aus einem wunderbar homogenen Klangteppich heraus. Man könnte sich für den barocken Bereich die Artikulationen allerdings sehr viel deutlicher, beredter vorstellen, dann gäb’s nicht solche „Löcher“, in denen die Wiedergabe manchmal nicht nach vorne zieht und, übertrieben gesagt, zu „blockflötig“ bleibt.

Und unsere rührige Kammerphilharmonie? Die bot unter der Leitung von Heinrich Schiff sogar drei verschiedene Programme. Haydns Cellokonzert, Mozarts g-Moll-Sinfonie, Beethovens erste Sinfonie. Das ist Literatur, die dieses Orchester inzwischen im Schlaf zu spielen scheint und trotzdem nicht die geringsten Routineerscheinungen zu verzeichnen sind. Das Orchester applaudierte dem Dirigenten Heinrich Schiff, und Schiff applaudierte dem Orchester.

Die gegenseitige Begeisterung ist Resultat einer inzwischen langjährigen künstlerischen Freundschaft. Das erlaubte Schiff, mit rasantem Risiko in eine ebenso emphatische wie plebejisch-schroffe Wiedergabe einzusteigen. Das Publikum klatschte anhaltend nach jedem Satz: Dies ein Beweis dafür, dass mit der Struktur der „großen Nachtmusik“ wirklich neue Publikumsschichten erreicht werden können. Denn die Bildungsbürger wissen, dass eine Sinfonie vier Sätze lang dauert.

Ute Schalz-Laurenze

Heute Abend beim Musikfest im Dom zu Verden um 20 Uhr: Georg Friedrich Händels ,,L’Allegro. il Penseroso ed il Moderato“ in der Interpretation von John Eliot Gardiner