Rechnen für die nächste Flut

Die Katastrophe ist ein Glücksfall für das Institut – die große Chance für das neue Vorhersagemodell

von ULRICH SCHULTE

Genau genommen ist die Flutwelle gleich dreimal in sein Leben gerauscht. Als Erstes kam sie auf den Familienvater Lennartz zu, der mit Frau und Kind in Radebeul wenige Kilometer vor Dresden wohnt. Sie hat ihn verschont, aber dafür hat er zwei Nächte Säcke voll geschippt, um fremde Keller zu retten.

Er muss die Flut, zum zweiten, auch beruflich eindämmen. Schließlich ist er Hydrologe, weiß, was Wasser anrichten kann. Dr. sc. Lennartz, Oberassistent am Lehrstuhl für Hydrologie der Technischen Universität Dresden, entwickelt Modellsysteme für Hochwasservorhersagen. Er berechnet, wie groß ein Rückhaltebecken, wie tief eine Talsperre oder wie hoch ein Deich sein muss. Er betreibt die Wissenschaft vom Wasser.

Und deshalb bleibt, drittens, die Flut der Medien. Die Journalisten rufen dutzendweise an, sorgen dafür, dass Lennartz 13 Stunden täglich im Büro bleibt. Mit diesem Ansturm hat auch der Telefonanruf zu tun, der ihn Anfang der Woche erreichte und der eine halbe Million Euro wert ist.

Doch von vorn. Franz Lennartz, 47, ist der Typ Wissenschaftler, dem der Elfenbeinturm fremd ist. Einer, der einen Dreitagebart trägt, Kurzarmhemd und Ledersandalen. Der sein Mountainbike im Büro an den Schreibtisch lehnt, Studenten in der Mensa über den Kartoffelauflauf hinweg mit Victory-Zeichen grüßt. Sie mögen ihn hier im Institut für Hydrologie und Meteorologie in Dresden-Plauen. Man hat das Gefühl, dass er der Richtige ist, um über das Wasser zu reden. Nicht nur, weil er es täglich in statistische Tabellen einsortiert. Sondern auch, weil er aus Hamburg kommt, in Kiel studiert hat und deshalb manche Silben leicht näselnd dehnt.

„Die Vorwarnzeit war ein Witz“, sagt Lennartz. „Zwölf Stunden für die Stadt waren viel zu kurz.“ Mindestens 48 Stunden wären drin gewesen, „das ist wissenschaftlich absolut machbar“. Wertvolle Stunden, die den Dresdnern fehlten, in denen viele ihre Möbel in den zweiten Stock hätten schleppen können. Die steigende Elbe wurde zu lange unterschätzt. Mit schuld daran sind die Programme, mit denen die Hochwasserwarnzentren ihre Vorhersagen treffen. Sagt Lennartz. Veraltet seien die Modelle, lieferten für Extremszenarien unbrauchbare Ergebnisse. Es sind, vereinfacht gesagt, Prognoseprogramme, die auf historischen Flutkatastrophen beruhen. Lennartz will sie durch eine neue Methode ersetzen. Denn wie soll man mit der Vergangenheit das Niedagewesene berechnen?

Doch für Dresden kommen diese Frage und die mögliche Antwort zu spät. Die Elbe fließt längst wieder träge in ihrem Bett. Nur vereinzelt sieht man die Wirkung des Wassers so deutlich wie an der Löbtauer Straße, wo sich die Weißeritz eine breite Schneise gefräst hat und aus ihrem künstlich angelegten Bett geströmt ist. „Hier hat sie sich ihren alten Lauf wieder gesucht und ist abgegangen. Erst am Kraftwerk vorbei, dann in Richtung Altstadt.“ Wie schon 1957. Eigentlich ein bekanntes Phänomen.

Lennartz tippt mit dem Fuß an die Asphaltdecke, die zusammengefaltet ist, als wäre sie aus Papier. Die Brückengeländer hat das Wasser einfach weggeklappt. „Um so etwas in Zukunft zu verhindern, müsste hier ordentlich Beton rein.“ Er weiß, dass solche Sätze die Naturschützer auf die Barrikaden treiben. Doch genauso ärgert ihn, dass deren Verbände die Deutungshoheit für die Ursachen an sich gerissen haben. Zum Beispiel die Buhnen. Die schmalen Dämme aus Felsbrocken ragen an der Mittelelbe in den Fluss hinein, sie sollen das Wasser in die mittige Fahrrinne zwingen. Es fließt dann schneller, höhlt zudem das Flussbett tiefer aus. Eine Autobahn für Binnenschiffe entstehe, empören sich Naturschützer, Flutwellen könnten noch schneller flussabwärts rasen. Derlei Polemik regt den Wissenschaftler Lennartz auf. Wahrscheinlich zögen die Buhnen die Flutwelle sogar auseinander, argumentiert er. „Und wirken somit scheitelsenkend.“ Müsste man mal durchrechnen.

Nach dem ersten Schock hat Lennartz schnell reagiert. Er hat die Visitenkarten aus der unteren Schreibtischschublade hervorgekramt. Dann hat er mit den Professoren des Instituts eine Stellungnahme erarbeitet. Zwei Seiten, enger Zeilenabstand. Es ist nicht leicht, länger mit ihm zu sprechen. Immer wieder stört das Telefon. Die Pressestelle der Universität. „Richtig, Vb-Wetterlage. Ja, der Begriff stimmt so. V für römisch fünf.“ Lennartz erklärt. Ruhig. Geduldig. Erzählt von Tief Ilse, das sich, vollgesogen mit feuchtwarmer Mittelmeerluft, in Richtung Norden nach Österreich und Sachsen aufmachte. Und dort von kalten Luftmassen „ausgepresst wurde, wie ein Schwamm“. Lennartz kann anschaulich erklären. Er scheut sich nicht, einfache Worte zu benutzen.

Alle waren sie da. Teams von ARD, ZDF und MDR. Lennartz hat gelernt, worauf es ankommt beim Fernsehen. Von links ins Buch schauen, von rechts noch einmal durchs Büro laufen für die Zwischenschnitte. Der Oberassistent ist in den letzten Tagen zum Volkshochschullehrer für Hydrologie mutiert. Wieder klingelt das Telefon. Die Pressestelle. Diesmal eine andere Mitarbeiterin. „Ja. Das ist eine typische Hochwasserwetterlage. Klar. Wenn Sie meinen, schreiben Sie das dazu.“ Es ist das alte Problem. Wissenschaftler wollen alle Details dokumentiert wissen. Journalisten wollen lieber Schwarzweiß.

Natürlich presst Lennartz komplexe Probleme nicht selbstlos in die Zwanzig-Sekunden-Statements für die Fernsehleute. Die Naturkatastrophe ist, so zynisch es klingt, ein Glücksfall für sein Institut. Die große Chance für das neue Vorhersagemodell, das sie entwickeln wollen. Deshalb macht er „diese Woche zur Pressewoche“ und lässt alles andere, Seminarpapiere oder Hausarbeiten, erst mal liegen. „Noch hat das die Durchschlagskraft einer bunkerbrechenden Bombe.“ In wenigen Wochen wird gewählt, die letzten verschlammten Keller werden aus den Nachrichten verschwinden. Dann ist es zu spät.

48 Stunden Vorwarnzeit sind machbar – wertvolle Stunden, um den Hausrat in Sicherheit zu bringen

Dass er es immer geahnt hat, würde Lennartz nie behaupten. Das wäre falsch, unwissenschaftlich sowieso. Aber er sagt: „Nach dem Oderhochwasser 1997 haben Wissenschaftler ein Frühwarnsystem gefordert. Wir haben überlegt, welches Instrument wir künftig vielleicht brauchen.“ Ein neues Modell für Hochwasservorhersage. Es soll nicht mehr mit historischen Hochwassern rechnen. Stattdessen wollen die Dresdner Wissenschaftler jede Unebenheit eines Flussbettes, jedes Gefälle und jeden Überflutungsraum dokumentieren und mit einem selbst lernenden Programm kombinieren.

Forschung ist teuer und das Ergebnis ungewiss. Bereits im Juni 1999 bat das Institut das Bundesministerium für Bildung und Forschung um Fördergeld. Eine Antragsskizze ging nach Berlin. 15 Seiten mit Anhang, in denen von Niederschlagsabflussmodellen, Einzugsgebietscharakteristika und Koaxialdiagrammen die Rede ist. Formblätter mussten ausgefüllt und gestempelt werden. Lennartz blättert in seinem Ordner. Da ist es, das Ablehnungsschreiben. Datiert auf den 12. April dieses Jahres. Die Begründung lässt sich einfach zusammenfassen: fachlich sehr gut, aber die Priorität ist zu gering.

Der Anruf vom Bundesforschungsministerium kam vorigen Montag. Da war es keine zwei Wochen her, dass die Weißeritz Dresden unter Wasser setzte. Der Staatssekretär war dran, man könne doch eine Zusage in Aussicht stellen. „Die Frage der Dringlichkeit ist vor dem jetzigen Hintergrund eine andere“, sagt dazu eine Ministeriumssprecherin. Es sei doch logisch, dass sich die Leitung des Hauses einen solchen Antrag jetzt noch einmal genau anschaue. Am selben Montagabend verkündete der Staatssekretär in den „Tagesthemen“, dass sein Ministerium ein aussichtsreiches Projekt zur Vorhersage von Extremhochwassern fördere.

Lennartz’ 13-Stunden-Tage haben sich gelohnt. Das Geld soll laut Bundesforschungsministerium noch in diesem Jahr fließen. Mit der Summe von 498.000 Euro wird das Dresdner Institut zwei neue Stellen ausschreiben, Bundesangestelltentarif Ost, und in drei, vier Jahren erste Ergebnisse liefern. An Lennartz’ dunkle Bürotür klopft die Institutssekretärin, bringt ein ganzes Bündel Seiten, die aus dem Fax gequollen sind. Dem Bundesforschungsministerium kann es nicht schnell genug gehen. Die Öffentlichkeit will Taten. Das Telefon wird das wichtigste Arbeitsinstrument des Hydrologen Franz Lennartz bleiben. Dieses Mal ist nicht die Pressestelle dran, sondern ein Institutskollege. „Wollt ihr nicht doch noch aufspringen auf den anderen Antrag? – Hm. – Das muss aber schnell gehen. – Jetzt ist die Suppe noch richtig heiß.“