Die aus der Statistik fallen

Zum neuen Ausbildungsjahr kommt das Arbeitsamt regelmäßig mit Zahlen zur Lehrstellensituation. Der Jobbörsen-Verbund Berlin fängt auch die auf, die sich auf dem Amt gar nicht erst anmelden

„Vielen müssen wir eine arbeitsmarkt- kompatible Haltung vermitteln“

von ANETT KELLER

„Wir haben hier noch einen Umzug. Jetzt sofort. Wer will?“ fragt Sigrid Meenken-Brinker über den Tresen ihres Büros. Fünf Gesichter schauen zu ihr hoch, fünfmal schweigendes Abwarten. „Na, nicht so viele auf einmal!“, hakt die Projektleiterin der Kreuzberger Jobbörse nach. „Ich mach das“, sagt Konrad*. Er bekommt den gelben Vermittlungszettel in die Hand gedrückt, ruft beim Kunden an und schwupps, ist er aus der Tür.

Inzwischen haben sich Julia, Freddy, Martin und Sören um den runden Tisch versammelt. Nur Sören kennt die Jobbörse schon, er hat zwei seiner Freunde mitgebracht. Auch Julia fand durch die „Mundpropaganda“ von Freunden den Weg in den Hinterhof der Oranienstraße 25.

Sozialpädagoge Heiko Of erklärt, wie die Börse funktioniert. Jeden Mittwoch und Freitag von 9 bis 11 Uhr ist das Büro geöffnet. „Am besten, ihr kommt direkt um neun und schaut an der Pinnwand, was an Jobs da ist. Wir erwarten Pünktlichkeit, dass ihr während der Arbeit ohne Alkohol und Drogen auskommt und dass ihr keine Jobs eigenmächtig an Freunde weiterreicht“, sagt Of den vier Jobsuchenden. „Ihr müsst hier nicht erscheinen, aber wer lange nicht da war, fällt aus der Vermittlung wieder raus. Wir machen euch ein Angebot, zugreifen müsst ihr schon selber.“

Heute wird es für die drei Neulinge noch keine Vermittlung geben. Of und seine Kollegen haben die Erfahrung gemacht, dass „Verzweifelte jeden Scheiß machen“. Das nützt weder dem Arbeitssuchenden noch dem Arbeitgeber. Die jungen Erwachsenen – nur 18- bis 27-Jährige vermittelt die Jobbörse – sollen sich erst mal selbst reflektieren und dann wieder kommen. Freiwillig.

Die Börse basiert auf Vertrauen und ist darum Anlaufstelle für viele, die „den Ämtern“ misstrauen oder von ihnen schon längst abgeschrieben sind. Freddy* ist 23, hat sieben Jahre Drogenabhängigkeit und eine erfolgreiche Therapie hinter sich. Eine Lehre als Koch hat er abgebrochen. „Jetzt ordne ich mein Leben neu“, sagt Freddy. Er hofft auf einen Platz in der Tannenhof-Schule, um den erweiterten Realschulabschluss zu machen. Danach am liebsten noch Abitur und ein Studium, Regie oder Heilpraktiker kann er sich vorstellen. Doch das neue Selbstvertrauen steht noch auf wackeligen Füßen: „Ich hab am meisten Angst vor mir selbst, davor, dass mir das Durchhaltevermögen fehlt.“

Die Mitarbeiter der Jobbörse sind allesamt Sozialpädagogen. Überwiegend kämen die Jugendlichen zwar wegen Job- oder Ausbildungssuche, aber „bei den meisten hängt da ein Rattenschwanz von Problemen dran“, sagt Of. Familienkrach, Drogensucht, Schulden. Manche seien die dritte Generation von Sozialhilfeempfängern, „die wissen gar nicht, dass man auch mit Arbeit Geld verdienen kann“, sagt Of. Lebensumstände, die eine Ausbildung verhindern.

Peter* brach vor kurzem sein Schauspielstudium ab. „Die Lehrer waren Schweine“, sagt der 24-Jährige. „Ich bin zerbrochen an dieser Schule.“ Schauspieler will er immer noch werden, aber „momentan fehlt einfach die Kraft“. Peter ist zur Ausbildungsberatung gekommen, er will keinen Stunden- oder Tagesjob, sondern ein längerfristiges Fundament. Heiko Of berät, das heißt, er fragt. Behutsam versucht er, Peters Biografie zu ergründen. Neben Abi und Schauspielschule stehen bald mehrere Jobs auf Ofs Statistikbogen. Peter hat als Bau- und Umzugshelfer, Baumpflanzer und Kellner gearbeitet. Letzteres sogar zwei Jahre lang. An den Jobs hangelt Of sich entlang, „Was gefiel dir, was nicht?“

Am Ende steht nicht die falsche Weisheit eines erhobenen Zeigefingers, sondern eine realistische Einschätzung. „Es ist relativ unwahrscheinlich, dass wir jetzt noch was für dich finden“, sagt Of zu Peter. „Am besten, du besorgst dir Beruf aktuell – eine Beschreibung aller Ausbildungsberufe, die es so gibt.“ Während der Lektüre empfiehlt Of eine Plus-minus-Liste. Das Maurerbeispiel verdeutlicht, wie er das meint: „Maurer bauen Mauern und rühren Mörtel. Wenn du nun sagst: ‚Mauern find ich doof, aber Mörtel rühren klasse‘, dann schreib dir das auf. Aus all dem, was du gut findest, ergibt sich vielleicht ein Beruf, der dir so vorher noch gar nicht klar war.“ Peter solle es zwanglos lesen. „Wenn die Überlegungen in der Sackgasse enden, dann kommst du wieder und wir überlegen gemeinsam“, bekommt er von Of mit auf den Weg.

Of will niemanden überstürzt in einen Job drängen. Falscher Druck von Eltern und Lehrern zu einer Ausbildungsentscheidung sei oft schon die Vorstufe zum Scheitern der Ausbildung. Etwa 25 Prozent, die sich in der Jobbörse anmelden, sind Abbrecher. 50 Prozent haben nie eine Ausbildung begonnen. Die wenigsten seien so organisiert wie Peter, sagt Of. „Die meisten sind völlig planlos, wissen überhaupt nicht über sich Bescheid.“ Dazu kommen häufig fehlende Schulabschlüsse.

So sind es bei der Jobbörse auch die kurzfristigen Jobs, die fast 100-prozentig vermittelt werden. An der Pinnwand hängt seit vier Wochen das Gesuch für einen Azubi zur Einzelhandelskauffrau. Auch zwei Arzthelferinnen könnten sofort vermittelt werden. „Oft fehlen den Jugendlichen einfach die Voraussetzungen“, sagt Projektleiterin Meenken-Brinker. Es ist nicht allein die mangelnde Schul- oder Berufsausbildung. „Viele kommen, nachdem sie jahrelang gar nichts getan haben, denen müssen wir erst mal eine gewisse arbeitsmarktkompatible Haltung vermitteln“, sagt Of. Dazu gehört auch, dass sich die Jugendlichen jedes Mal, wenn sie morgens das Büro betreten, mit ihrem Namen vorstellen und laut und deutlich „Guten Morgen“ sagen. Und dass sie den Kunden, bei dem sie gebraucht werden, vor Arbeitsantritt anrufen, um sich vorzustellen und Gesprächsführung zu üben.

In den Stunden- und Tagesjobs sehen die Berater und Beratene in der Jobbörse deswegen nicht einen schnellen Verdienst, sondern einen Einstieg in Berufstätigkeit. Kunden buchen, wenn sie zufrieden waren, gern die gleichen Leute wieder. Und irgendwann gibt es dann vielleicht doch die Festanstellung oder eine Lehrstelle. Deswegen kann Of richtig wütend werden, wenn Unwissende mal wieder behaupten, die Jobbörse deale mit Schwarzarbeiterjobs. „Alles erster Arbeitsmarkt, alles Unternehmen, die das richtig anmelden“, sagt Of.

Nach dem Arbeitseinsatz bekommt jeder nach Rücksprache mit dem Auftraggeber ein Feedback von der Jobbörse. „Wir versuchen, viel zu loben“, betont Of. Am meisten freue sie sich, fügt Meenken-Brinker hinzu, wenn Langschläfer auf einmal pünktlich kämen oder Schluffis auf einmal sorgfältig würden.

Kleine Schritte, deren Weg demnächst aber ein jähes Ende nehmen könnte. Die Kreuzberger Jobbörse wird derzeit noch vom Senat finanziert, ab Oktober soll damit Schluss sein. „Wenn bis dahin nichts passiert“, so Meenken-Brinker, „dann müssen wir schließen.“

*Namen von der Redaktion geändert Infos: www.jobboerse-berlin.de