Ministerin als armer Tropf

Kurz vor der Wahl muss Ulla Schmidt ein neues Rekorddefizit melden: 2,4 Milliarden Euro fehlen im ersten Halbjahr

aus Berlin ULRIKE WINKELMANN

Das war neu: Das Wort „Probleme“ kam bei Ulla Schmidt schon im ersten Absatz vor. Eine sichtlich entnervte Gesundheitsministerin musste der Presse gestern ein neues Defizit der gesetzlichen Krankenkassen präsentieren. Auf 2,4 Milliarden Euro sind die Miesen der Versicherungen zum ersten Halbjahr 2002 aufgelaufen.

Was noch schlimmer war als die Zahlen: Schmidts Prognose, dass dank günstiger Tarifabschlüsse in der Industrie, dank Weihnachtsgeld und steigender Rentenbeiträge im zweiten Halbjahr nicht nur den Beitragszahlern, sondern auch auch den Kassen wieder mehr Geld zuflösse, mochte gestern niemand mehr so recht glauben. Denn diese Argumente hatte man schon anlässlich der letzten Quartalszahlen gehört. Ihre fast wortgleiche Wiederholung ließ sie fadenscheinig wirken.

Außerdem fehlte ihnen der entscheidende Zusatz: Dass die Kassenbeiträge stabil bleiben, konnte selbst Ulla Schmidt gestern nicht mehr versprechen. Es gilt als ausgemacht, dass die Kassenbeträge von im Schnitt 14 Prozent bald weiter steigen werden. Vor allem die Betriebskrankenkassen haben vermeldet, dass sie ihre vergleichweise günstigen Beiträge nicht halten können. Die Großkassen wie AOK oder DAK halten sich vor der Wahl – nicht zuletzt aus Rücksicht auf ihre Ministerin – mit Ankündigungen zurück.

Nicht so Arbeitgeber und Union: Ein halbes Prozent mehr in der Krankenversicherung, „ein satter Prozentpunkt“ plus bei allen Sozialversicherungen zusammen seien zum Jahreswechsel zu erwarten, verkündeten am Wochenende Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und der Sozialversicherungs-Kompetenzler der Union, Horst Seehofer. Damit leiteten sie für die rot-grüne Bundesregierung die böse Woche der leeren öffentlichen Kassen ein. Spätestens wenn am Donnerstag die Arbeitsmarktzahlen veröffentlicht werden, dürften außer Ulla Schmidt auch noch andere Minister blass aussehen.

Es sind neben der schwierigen Arbeitsmarktlage und dem viel zu langsamen Anstieg der Löhne vor allem die Ausgaben für Arzneimittel, die das Krankenkassen-Minus wachsen lassen. Auch die Drosselungsversuche seitens der Ministerin inklusive des den Ärzten abgenommenen Versprechens, die Pillen-Kosten um fünf Prozent zu senken, haben hier nichts gefruchtet. Um 3,9 Prozent stiegen die Medikamentenausgaben auch im ersten Halbjahr 2002 an.

Der Unwille der Ärzte, den Sparvorgaben entgegenzukommen, führt bei Schmidt mittlerweile zur Radikalisierung: Gestern grub sie das Kriegsbeil aus und zog die „Positivliste“ wieder hervor. Diese staatlicherseits aufgestellte Liste mit „verordnungsfähigen“, sprich abrechenbaren Medikamenten schlummerte seit dem Abgang der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer friedlich in der Schublade. „Ich werde die Positivliste in Kürze dem Bundesrat zuleiten“, kündigte Schmidt gestern an. Dadurch würde sie rechtswirksam.

„Es kommt darauf an, dass die Ärzteschaft begreift: Nicht alles, was teuer ist, ist auch gut“, sagte Schmidt. Die Ärzte verschrieben neue Medikamente, die von der Pharmaindustrie in den Markt gedrückt werden, unabhängig von ihrem Nutzen. Langfristig könne diesem Trend nur Einhalt geboten werden, wenn eine unabhängige Kontrollinstanz jede „Innovation“ daraufhin abcheckt, ob die Zusatzkosten durch einen Zusatznutzen zu rechtfertigen seien.

Die Ärzteschaft reagierte auf Schmidts Zornesworte umgehend. „Die Ärzte haben nicht planlos verschrieben, wie die Ministerin suggeriert“, erklärte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Manfred Richter-Reichhelm. Am Beispiel HIV und Krebs könne man erkennen, „dass der Bedarf der Bevölkerung an kostenintensiven Arzneimitteltherapien immer größer wird.“ Richter-Reichhelm wies außerdem daraf hin, dass hunderte sehr teure Präparate sich derzeit in der letzten Prüfungsphase befänden.

Nur für die „schlanken“ Betriebskrankenkassen, die in den vergangenen Jahren junge und kostengünstige Mitglieder angeworben haben, sind die Arzneimittelkosten nicht das größte Problem. Hier macht sich jetzt bemerkbar, dass ihnen nicht nur junge Männer, sondern auch junge Frauen zugelaufen sind. Die BKK-Aufwendungen für Schwangerschaft und Mutterschaft stiegen im ersten Halbjahr 2002 um fast ein Fünftel.