KOHL RÄCHT SICH AN THIERSE FÜR DIE FOLGEN DES SPENDENSKANDALS
: Ein Altkanzler als Bettvorleger

Kohl sei, so der einstige Deutschlandexperte der Sowjetunion Nikolai Portugalow, als Bettvorleger gesprungen und als Tiger gelandet. Ein guter Witz, aber ein voreiliges historisches Urteil. Denn je mehr sich Kohls Karriere dem Ende zuneigt, desto deutlicher sehen wir die Rückverwandlung vom Raubtier des Jahres 1990 zu dessen leb- und harmlosem Fell, also zum ursprünglichen Zustand.

Beweis dieser zyklischen Bewegung ist Kohls Charakterisierung von Wolfgang Thierse als „der schlimmste Präsident seit Hermann Göring“, womit Thierses Funktion als Bundestags- und Görings Funktion als Reichstagspräsident gemeint ist. Es bedarf nur eines schwachen Erinnerungsvermögens, um sich ein paralleles Zitat aus Kohls erster Bettvorlegerzeit ins Gedächtnis zu rufen. Kurz nach dem Machtantritt Gorbatschows hatte der Bundeskanzler den Generalsekretär der KPdSU mit Joseph Goebbels verglichen.

Jetzt versichert uns Kohl, es sei ihm fern gelegen, einen demokratischen Politiker wie Thierse mit einem solchen brauner oder roter Couleur zu vergleichen. Aber das Wörtchen „seit“ begründet genau diesen Vergleich, der nicht nur bösartig und bar jeder Substanz ist, sondern sich auch durch vollendeten Idiotismus auszeichnet. War dieser Rückfall, was Wolfgang Thierse anlangt, Ergebnis aufgestauter Wut, eines plötzlichen Anfalls und – mit ihm verbunden – einer momentanen Geistesschwäche? Keineswegs. Wir erfahren von trainierten Enthüllungsjournalisten, dass der Goebbels-Thierse-Vergleich zum Repertoire Kohls gehört, seit die CDU wg. Spendenaffäre vom Bundestagspräsidenten finanziell abgestraft wurde.

Kohl ist mit seinem Vergleich wieder zur heimischen Muttererde zurückgekehrt. Im Verständnis von Christdemokraten Kohl’scher Prägung ist es ihre Partei, die dazu berufen ist, Deutschlands Geschicke zu leiten. Sie verkörpert geradezu die Bundesrepublik, während Rot und Grün eigentlich illegitimerweise die Macht ausüben. Sie sind ein Spuk, der der hellen Sonne CDU weichen wird. Der Vergleich Thierses mit Göring stammt aus dem Ausgrenzungsbedürfnis gegenüber jedweder politischen Kraft, die es wagt, den natürlichen Anspruch von CDU/CSU auf Herrschaft zu bestreiten. Fakten zählen demgegenüber nicht. Zum Beispiel dass unter Hermann Görings Reichstagspräsidentschaft das Zentrum, also die Vorgängerpartei der CDU, im März 1933 für das Ermächtigungsgesetz stimmte – und dies freiwillig.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Ansprüche des Bettvorlegers Kohl sich nicht mit denen der heutigen Hausbewohner treffen. CHRISTIAN SEMLER