Wohl bestallte Kirchenmusik

Aufführung mit Ersatzbank. Das Musikfest bringt Johann Sebastian Bachs „Messe in h-Moll“ nicht solistisch, sondern mit drei bis vier Sängern pro Stimme

24 SängerInnen, Mitglieder des Freiburger Balthasar-Neumann-Chores, standen für die Musikfest-Aufführung von Johann Sebastian Bachs „Messe in h-Moll“ in der Mitte der viereckigen Kirche in Leer. Vor ihnen das Instrumental Ensemble mit Dirigent Thomas Hengelbrock. Die Solistinnen befanden sich im Chor und es waren auch nicht nur vier, sondern neun.

Was Hengelbrock mit dieser Besetzungspraxis erreicht, sind faszinierende Momente einer radikalen Transparenz. Hengelbrock fundiert seine Praxis entgegen der folgenschweren These des amerikanischen Musikwissenschaftlers Josua Rifkin, Bachs Werk sei ein solistisches.

Rifkin veranschaulicht seine These mit einem Vergleich: Es könne ja sein, dass irgwendwann das Fußballspiel ausgestorben sein wird und man sich an der dokumentierten Tatsache orientiert, dass 25 Personen in einer Mannschaft seien. Eines Tages aber fände die Forschung heraus: Gleichzeitig gespielt haben davon nur elf. Die „25 Fußballer“ sind dabei auf das berühmte Leipziger Dekret von 1730 „Entwurff einer wohl bestallten Kirchen Music“ zu beziehen, in dem Bach drei bis vier Sänger pro Stimme verlangt.

Rifkin argumentiert: „Bachs Stimmen enthalten nichts, was als Beweis dafür gelten kann, dass mehr als ein Sänger in ihnen gelesen hätte.“ Dem entgegen stehen Bachs Klagen über seine qualitativ und quantitativ nie ausreichenden Sänger.

Wie dem auch sei: Hengelbrock und seinen Leuten gelang eine mitreißende „Cum Sanctu“-Fuge und ein explosives „Et resurrexit“. Perspektivenwechsel wie „Gloria“ zu „et in terra pax“ wirkten allerdings, besonders im Orchester, noch unfertig. Soloflöte und vor allem Geige befriedigten keineswegs, so unruhig und hetzig wurde gespielt. Die SolosängerInnen waren nicht schlecht, insgesamt aber für diesen Ansatz zu heterogen.

Hengelbrocks Versuch, unhistorische Emotionalität und barocke Gestik harmonisch zu verbinden, gelang zwar nicht immer, war aber bemerkenswert in der Konzeption. Schön dass Hengelbrock das „Dona nobis pacem“ nicht groß aufbaute, sondern in die Stille führte, was dem unglaublichen Schlusssatz eine ergreifende Wirkung verlieh. Ute Schalz-Laurenze