„Omnis cellula a cellula“

„Jede Zelle stammt aus einer Zelle“: Heute vor 100 Jahren stirbt der Arzt, Ethnologe, Anthropologe, Archäologe und Politiker Rudolf Virchow. Gern legte er sich mit allen an. Berlin hat dem Dickkopf viel zu verdanken

Gleichberechtigt wie die Zellen im Körper müssten auch die Bürger im Staat sein

von PHILIPP GESSLER

Zum Trauerzug für Rudolf Virchow, gestorben am 5. September 1902, säumten vier Tage später Tausende die Straßen Berlins. Die Times schrieb, es herrsche das Gefühl, Deutschland verliere seinen führenden Wissenschaftler. Der äußerst versierte, vielseitige Wissenschaftler und Politiker zog zeit seines Lebens wenn nicht Bewunderung, so doch Respekt auf sich – und die Liebe vieler ganz gewöhnlicher Berlinerinnen und Berliner.

Sie hatten es vor allem ihm zu verdanken, dass sich ihr alltägliches Leben entscheidend verbessert hatte: durch bessere Schulen und eine öffentliche Kanalisation, durch hygienisch überwachte Markt- und Schlachthallen, durch Krankenhäuser, Parks und Kinderspielplätze. Virchow wurde geliebt, weil er seinen eigenen Kopf hatte, ja ein Revolutionär war. In der Politik wie der Wissenschaft.

Ein zu großes Wort? Keineswegs. Virchow kam von ganz unten, stand, wortwörtlich, auf den Barrikaden, legte sich mit den politischen wie wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit mit der ihm eigenen Dickköpfigkeit und Brillanz an. Schon als Gymnasiast in Köslin war er zugleich der beste Schüler wie der Zögling mit dem schlechtesten Betragen in der Klasse.

Da er aus einer armen Familie stammt, aber Arzt werden will, beginnt er die fast kostenlose Ausbildung an der Berliner Pépinière, einer militärärztlichen Akademie. Er wird (ein sehr beliebter) Arzt an der Charité, promoviert mit 22 Jahren – und legt sich schon zwei Jahre später mit allen Altvorderen seiner Zunft an, indem er feststellt: Das Leben gehorche allgemeinen physikalischen und chemischen Gesetzen. Es gründe sich im Wesentlichen auf der Aktivität der Zelle. Denn Lebewesen seien Zellverbände. Jede Zelle aber gehe aus einer anderen Zelle hervor: „Omnis cellula a cellula – jede Zelle stammt aus einer Zelle“, war einer seiner zentralen Lehrsätze.

Das war eine Revolution in der Medizin, denn diese rein naturwissenschaftliche, bloß physikalisch-mechanische Sicht des Menschen widersprach jahrhundertealten Vorstellungen der Heilkunst. Die von Virchow gegründete Zellularpathologie, das heißt die Suche nach den Krankheitsursachen in den Zellen des Menschen, bildet die Grundlage der modernen Medizin. Virchow wird der führende Pathologe seiner Zeit: Schon mit 26 Jahren hatte er sich habilitiert.

Weder wählt er die Sicherheit einer Wissenschaftskarriere, noch scheut er sich davor, politisch anzuecken: Im Februar 1848 untersucht er im Auftrag des preußischen Ministers „der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ die Flecktyphus-Epidemie in Oberschlesien – geplant war die Mission als Beruhigungspille für die verängstigten Untertanen. Doch anstatt das große Sterben nur medizinisch zu schildern, diagnostiziert er: Die Ursachen für das Wüten des Todes sei eine fehlgeleitete Politik der preußischen Regierung. Abhilfe könnte neben der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneien und Lebensmitteln nur eine „volle und unumschränkte Demokratie“ bringen.

Interessanterweise gründete diese Ansicht Virchows auch auf seiner wissenschaftlichen Einstellung: So wie die Zellen eines Körpers, eines Zellenstaates, alle gleichberechtigt seien, aber unterschiedliche Begabungen und Aufgaben hätten, so sei auch der Staat als organischer Verbund gleichberechtigter Individuen zu betrachten. Kein Wunder, dass man Virchow wenige Woche nach der Mission für Preußens Regierung bei den Straßenkämpfen der Märzrevolution 1848 wiedersieht: Er gehört zu den Verteidigern der Barrikade Friedrichstraße/Taubenstraße in Mitte. Die Revolution scheitert. Virchow aber sieht in ihr gleichwohl das richtige Umfeld für einen Umbruch auch in der Heilkunst: „Die Medizin kann dabei allein nicht unberührt bleiben; eine radicale Reform ist auch bei ihr nicht mehr aufzuschieben.“

Nach dem Scheitern der Revolution steht Virchow kurz vor seiner Entlassung. Angesichts der massiven Repression der staatlichen Mächte zieht er sich ab 1849 für einige Jahre in die innere Emigration zurück: Er konzentriert sich als Professor in Würzburg auf seine Forschung. Doch sein nationaler und internationaler Forscherruf schwillt innerhalb kürzester Zeit so an, dass er den Ruf des preußischen Kulturministeriums zum Professor für Pathologie an der Berliner Universität und Prosektor der Charité erhält. Ende der 1850er-Jahren, als die Zeiten wieder liberaler wurden, beginnt Virchow sich wieder politisch zu engagieren. Er gründet mit anderen liberalen Intellektuellen die „Deutsche Fortschrittspartei“, wird in das Preußische Abgeordnetenhaus und später auch in den Reichstag gewählt. Im Landtag gerät er immer wieder an Otto von Bismarck. Der Streit eskaliert 1865, als Virchow andeutet, der reaktionäre Fürst habe gelogen. Bismarck fordert Virchow zum Duell – der lehnt das Rencontre aus grundsätzlichen Erwägungen ab: so seien politische Konflikte in einer Demokratie nicht zu lösen, durch solche Kämpfe werde die Meinungsfreiheit gefährdet.

Obwohl ihm diese Verweigerung große Popularität einbringt – politischen Erfolg hatte Virchow vor allem auf lokaler Ebene. Karl Marx zeigte sich in einem Zeitungsartikel zwar verwundert, dass ein Mann seiner Geistesgaben sich so in der Stadtpolitik abmüht, hier aber, in seinen langen Jahren als Berliner Stadtverordneter, kann er am besten seinem Motto „Politik ist weiter nichts als Medicin im Grossen“ gerecht werden. Der Bau von kommunalen Krankenhäusern unter anderem in Friedrichshain, in Moabit und am Urban ist vor allem ihm zu verdanken. Ohne ihn wäre Berlin noch lange ein dreckiges, übervölkertes Loch geblieben – so ist ihm die bahnbrechende Entscheidung für den Bau einer öffentlichen Kanalisation für die aus allen Nähten platzende Metropole zu verdanken.

Dennoch ist Virchow aus dem heutigen Leben der Stadt so gut wie verschwunden: An ihn erinnern gerade mal ein Krankenhausname im Wedding und ein Denkmal bei der Charité Virchow. Roland Helms, Mitarbeiter des Medizinhistorischen Museums, zeigt sich darüber „etwas enttäuscht“: Virchow sei heute nur noch „mittelbar“ in Erinnerung. Immerhin, am Volkspark Friedrichshain gibt es eine kleine Sackgasse, die seinen Namen trägt. Der deutsche Staat mag keine Revolutionäre.