Der Trauerarbeiter

Deutschland rückt zusammen: In Zeiten von Flut und Rezession ist Herbert Grönemeyer mit „Mensch“, seinem neuen Album, auf bestem Wege, zum deutschen Bruce Springsteen zu werden

Alles muss raus: Diese Direktheit kann mal erfrischend sein, geht oft aber auf die Nerven

von ANDREAS MERKEL

Und dann legte sich eine große Traurigkeit über das Land und den Sommer. Das Lied lief irgendwann im Juli erstmals im Radio. Es hieß tatsächlich „Mensch“, es war tatsächlich von Herbert Grönemeyer, und es endet mit den Zeilen: „Ist schon okay/ Es tut gleichmäßig weh/ Es ist Sonnenzeit/ Ohne Plan, ohne Geleit/ Der Mensch heißt Mensch/ Weil er erinnert, weil er kämpft/ Weil er hofft und weil er liebt/ Weil er mitfühlt und vergibt/ Und weil er lacht, weil er lebt, du fehlst.“

Du fehlst: Bekanntlich starben 1998 innerhalb einer Woche Grönemeyers Frau ebenso wie sein Bruder an Krebs. Aber selbst, wenn es jemanden geben sollte, der das noch immer nicht weiß, ist nur schwer vorstellbar, dass ihm beim Hören dieses Songs nicht die Tränen in die Augen steigen werden. Es ist ein einfacher Text, und Grönemeyer singt ihn so schutzlos und offen wie jemand, der sich in tiefster Verzweiflung und mit letzter Kraft noch einmal vorbuchstabiert, was den Menschen doch auch immer noch ausmacht.

So kam es, dass man vielleicht zum ersten Mal überhaupt auf ein neues Album von Grönemeyer gespannt war. Das Album heißt jetzt wie die Single „Mensch“ und ist in diesen Tagen mit maximalem Medienaufwand veröffentlicht worden. Seit einer Woche können die Rezensenten es hören, seit Montag ist es im Handel erhältlich. Leider – für die Fans und ihn selbst wahrscheinlich glücklicherweise – ist „Mensch“ nach der großartigen Vorlage der Single bloß ein typisches Grönemeyer-Album geworden. Dabei geht es auch auf den übrigen zehn Songs in erster Linie um Trauerarbeit.

Grönemeyer präsentiert sich mit seinen alten Schwächen und Stärken. Er ist immer noch einer der wenigen deutschen Sänger, die ihre Stimme wie ein Instrument einsetzen können. Die Musik soll im Vordergrund stehen, sie wird immer zuerst komponiert, er singt sie mit von ihm so genannten Bananen-Lyrics ein, richtig getextet wird erst hinterher. So kommt es dann zu Grönemeyers eindringlichem Gesangsstil, vor allem aber auch zu einer Sprache, die sich spontan der Musik fügen soll.

Es ärgert Grönemeyer, wenn man sich zu sehr auf den Text konzentriert, den er stark rhythmisiert, Silben abschleifend und Wörter verschluckend, ganz in seiner Musik integriert sehen möchte.

Paradoxerweise dominiert aber gerade aufgrund dieser Eigenwilligkeit eben doch in jedem Song Grönemeyers prägnanter Gesang die Musik. Und der Text – soweit verständlich – drängt entgegen der eigentlichen Intention alles andere in den Hintergrund. Grönemeyer dichtet mit einer Direktheit, die ab und zu erfrischend sein kann, oft jedoch einfach nur auf die Nerven geht. Alles muss raus, jetzt und hier, doppelt und dreifach hält besser. Vor allem bei den rockigen Uptempo-Nummern wird gerne großkalibrig mit der assoziativen Schrotflinte geschossen, nach dem Motto: Eine Metapher wird schon treffen.

Seine politische Empörung scheint sich vor allem aus dem eigenen kategorischen Interrogativ zu speisen: „Was soll das!?“ Dann regt sich Grönemeyer mit leicht angeprolltem Populismus über die „nukleare Welt“ auf, über die flachen Politiker und das ganze theoretische Gelaber, das eh nichts bringt, denn „um 12 ist Weltuntergang“.

„Ich mag dies Land, ich mag die Menschen, ich mag nicht den Staat“, singt Grönemeyer und wiederholt es gerne in Interviews. Das ist schön moralwirtschaftlich gedacht – Gewinne privatisieren und Verluste sozial umlegen: Deswegen funktioniert hier ja auch alles so gut, weil alle anderen ja auch den Staat so mögen und immer gewissenhaft Steuern zahlen …

Und auch musikalisch verkommen die politisch engagierten Aufrüttler wie „Neuland“ zu simplen, anachronistischen Rockstampfern.

Mehr bei sich ist Grönemeyer allemal gemeinsam mit seinem englischen Produzenten Alex Silva bei den an „Mensch“ anknüpfenden Balladen wie „Blick zurück“ und „Zum Meer“. Hier wurden die Drums zu zeitgemäßeren TripHop-Loops programmiert, es gibt subtile Bassläufe und immer wieder das eingängige, fein melodische Klavier, Grönemeyers eigentliche Domäne. Doch immer wieder kommt es zu schwer erklärlichen Abstürzen in eine Kontaktanzeigen-Romantik, wo bloß noch verzweifelt trunken versunken geliebt und endlich nach den Sternen gegriffen wird. Geschenkt.

Ärgerlicher stößt noch eine allzu offensive, eher unglücklich zu nennende Vermarktung von Person und Album auf, der es eigentlich gar nicht bedurft hätte. Bereits letzte Woche fand in Berlin mit großem Brimborium eine als Pressekonferenz deklarierte Record-Release-Party statt, auf der die versammelte Journaille mit „Mensch“-T-Shirts eingedeckt wurde. In dieser Woche kommt Herbert von Viva über Harald Schmidt bis zu Biolek auf allen Kanälen und bis zum Abwinken. Außerdem bringt der Stern noch ein Exklusivinterview, das sich ausnahmslos um Privatestes dreht. Und im Spiegel schließlich gibt es Applaus von der falschen Seite, das heißt aus dem eigenen Stall: Benjamin von Stuckrad-Barre, der sich bekanntlich von der gleichen Managerin wie Grönemeyer betreuen lässt, lobt das Album schlicht als allerbestes weg.

Grönemeyer, der westfälische „Kraftmensch“ (Roger Willemsen) mit Wohnsitz in London, ist indessen längst auf dem besten Wege, so etwas wie der deutsche Bruce Springsteen zu werden. Nach einer vom Boss selbst gestrickten Legende soll diesem auf einem Parkplatz in New Jersey kurz nach dem 11. September ein Autofahrer aus dem offenen Fenster zugerufen haben: „We need you!“ Zu Hause machte sich Springsteen prompt an die nationale Trauerarbeit, und das so entstandene Album „The Rising“ stürmte umgehend die Charts.

Grönemeyer hingegen soll die eigene Tochter nach dem Tod ihrer Mutter gesagt haben: „Du darfst jetzt aber nicht aufhören zu singen!“ Das Resultat geriet genau wie bei Springsteen zur nationalen Trauerarbeit, veröffentlicht in Zeiten der Rezession und Flutkatastrophen. Der Instrumentaltrack von „Mensch“ wurde vom ZDF prompt für die Spendenaktion zugunsten der Hochwasseropfer eingesetzt. Eine gigantische Tour durch Deutschlands größte Hallen und Stadien ist längst ausverkauft; das Album erhielt allein aufgrund der Vorbestellungen bereits Gold- und Platin-Auszeichnungen der Tonträgerindustrie, und die Single … ja, die Single: Letzte Woche fragte bei „Saturn“ am Alexanderplatz ein Bauarbeiter in kurzen Hosen und schweren Stiefeln, noch schmutzig von der Arbeit, einen der Verkäufer höflich nach der neuen CD von Herbert Grönemeyer. Der Verkäufer antwortete ungewohnt freundlich, dass das Album noch nicht draußen sei, es die Single aber schon gebe, drüben im Charts-Regal, die Nummer eins. Der Bauarbeiter sah nicht so aus, als wäre er schon mal hier gewesen. Er bedankte sich für die Auskunft, ging zu dem Regal und kaufte die Single.

Im nächsten Jahr will Grönemeyer zurück nach Berlin ziehen. Deutschland rückt zusammen. Es kann Herbst werden.

Herbert Grönemeyer: „Mensch“ (EMI)