Prophet im eigenen Land

Vor der eigenen Haustür liefert sich Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einer 27-jährigen Sozialistin. Nebenbei steht im Wahlkreis 77 (Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee) noch die Zukunft der PDS auf dem Spiel. Und am Ende entscheiden die grünen Wähler

Erststimme SPD – Zweitstimme grün? Die grünen Wähler sind unberechenbar

von ROBIN ALEXANDER

Der schlimmste Parlamentspräsident seit Hermann Göring hat sein Wahlkreisbüro gleich hinter dem Wasserturm. Wolfgang Thierse ist der einzige Ostdeutsche, dem die Ehre widerfährt, von Helmut Kohl persönlich beleidigt zu werden. Aber die ehrlich erworbene Feindschaft des Altkanzlers scheint dem SPD-Politiker nicht zu Kopf gestiegen, ebenso wenig wie andere Verdienste und Ehrungen. Kein ehemaliger Bürger der DDR hat je ein höheres Amt im vereinigten Deutschland bekleidet, kein Ossi steht für den neuen Staat, wie Wolfgang Thierse es tut.

Aber sein Büro sieht immer noch so aus wie 1990, als er es vom Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei übernahm: rot bezogene Stühle, die einen schon beim Anblick an die eigenen Bandscheiben erinnern, cremefarbene Möbel und eine cremefarbene Sekretärin, die „jut“ sagt und dem Gast ein Glas Leitungswasser anbietet. Nur die sanierten Wände und die Adresssammlung „Oeckl 1993/94“ erinnern daran, dass es schon ein paar Jahre her ist, dass die Bürgerbewegung die Sicherheitsorgane des Arbeiter-und-Bauern-Staats aus ihren Löchern vertrieb. Die Räume schmecken nach Kiez und nach politischer Arbeit – nach handfester politischer Arbeit: überregionale Zeitungen werden an diese Adresse nicht geliefert, aber in der Ecke steht ein Riesensack voll SPD-Luftballons.

„Seit ewigen Zeiten wohne ich hier“, sagt Thierse über den Prenzlauer Berg, spricht von „sozialer Bodenhaftung“ und murmelt „bin hier zu Hause“. Und es stimmt ja: Ein Typ wie Thierse, der im Kabarett und in der Schmidt-Show immer als „Ossi-Bär“ herhalten muss, ist eine Figur, die in der typischen DDR-Stadt kaum denkbar war. Vielleicht im Aussteiger-Milieu von Leipzig-Connewitz, vielleicht in Dresden-Neustadt. Eigentlich aber nur in Berlin-Prenzlauer Berg.

In diese Nische gehörte der bärtige Katholik Wolfgang Thierse. Hier kannten die Leute ihn auch: „Guck an, unser Thierse ist im Fernsehen“ haben sie gesagt, als Thierse 1990 als Chef der Ost-SPD prominent wurde. In diesem Jahr hat er den Wahlkreis gewonnen.

Danach wandelte sich sein Kiez: Junge und Westler zogen zwischen Mollstraße und Bornholmer. Jetzt sagte man: „Guck an, der Thierse aus dem Fernsehen ist hier.“ Aus der Nische war der Szenebezirk geworden, das Alte fühlte sich bedrängt und formierte sich: 1994 und 1998 gewann die PDS. Und Gerhard Schröder, der nur ruhige Ostgenossen schätzt, demütigte den aufmüpfigen Thierse öffentlich: „Was will der Thierse eigentlich, der gewinnt ja nicht einmal seinen Wahlkreis.“

Und diesmal? Der Wahlkreis ist neu geschnitten und heterogener geworden. Glaubt Thierse an seinen Sieg in Pankow, Prenzlauer Berg, Weißensee? Aus ihm ist nichts herauszukriegen: „Der Prophet gilt nichts in seinem eigenen Land“, brummelt er. Thierse-Sprüche eben: „Das Wort Optimismus mag ich nicht, das klingt mir zu sehr nach dem Optimismus der Werktätigen. Da bin ich zu sehr DDR-geschädigt. Ich bin nicht optimistisch, ich bin hoffnungsfroh.“

Thierse hat drei relevante Gegenkandidaten. Den Werner. Den Herrn Nooke. Und „sie“. Der erste ist Duzfreund Werner Schulz, grüner Kandidat, wie Thierse Ex-Bürgerrechtler, heute Grünenpolitiker – ein Freund. Der zweite: Günter Nooke, vom Bürgerrechtler zum CDUler geworden – ein Gegner. Und dann noch „sie“. Sandra Brunner, mit 27 Jahren nicht einmal halb so alt wie Thierse und dennoch Kandidatin der PDS – dafür hat Thierse keinen Begriff.

Die PDS-Strategen im Karl-Liebknecht-Haus setzen mit Sandra Brunner auf die Differenz äußerer Merkmale: „Alt. Etabliert. Männlich. Sandra macht den Unterschied.“, steht auf ihren Flyern. Junge Frau gegen drei alte Säcke, ist der Subtext ihrer Kampagne. Brunner erfüllt für die PDS die gleiche Funktion wie Plakate, auf denen „Geil“ oder „Cool“ steht. Aber die junge Frau ist mehr als nur ein Marketing-Trick: Sandra Brunner ist das, was man in der DDR einen „Perspektivkader“ genannt hätte. Obwohl ihre Zeit noch kommt, kann sie schon heute beachtliche Verdienste aufweisen. Früher hat Brunner bei der „AG Junge GenossInnen“ mitgemacht, einem strömungspolitischen Club, renitent gegen die Mutterpartei, immer mit dem Finger in der Wunde der totalitären Vergangenheit. Das war lästig und rückwärts gewandt. Brunner hat eine neue PDS-Nachwuchsorganisation gegründet: „solid“, englisch ausgesprochen. Ziel von „solid“ ist vor allem der Streit um die kulturelle Vorherrschaft im Osten, wo die rechte Jugendkultur in der Provinz der Gegner ist, nicht mehr die eigenen, alten Genossen.

Wie ihre Rhetorik betont auch Brunners Outfit Sachlichkeit: kurze schwarze Haare, schwarze Brille, unauffälliger Schmuck. Von ihrer Erfahrung her und auch intellektuell ist sie weiter als ihre 27 Lebensjahre. Aber reicht das für den Bundestag? Sie glaubt, sie könne die Parlamentsarbeit mit ihrem Jurastudium verbinden: „Ich möchte es schaffen, im Bundestag mein zweites Staatsexamen nebenbei zu machen.“ Existenziell für die PDS, so Brunner, sei „Friedenspolitik“. Sie informiert sich im Internet über den Nahen Osten, Afghanistan und den Balkan – „nd-online“ flackert in einer Wahlkampfpause auf ihrem Laptop. „Ich schätze am Neuen Deutschland vor allem die Auslandsberichterstattung“. Meinungsstark berichtet das ehemalige SED-Zentralorgan aus der ganzen Welt – ohne einen einzigen eigenen Korrespondenten.

„Alt, etabliert, männlich. Sandra macht den Unterschied.“

Wer wird am Ende siegen? Thierse, der auf den Podien seine ganze pastorale Bundestagspräsidentenautorität ausspielt? Oder Brunner, die fleißig noch die kleinste Veranstaltung besucht und die konzentrierte Wahlkampfwucht der PDS hinter sich weiß? Die Sozialisten brauchen drei Direktmandate, um sicher wieder in den Bundestag einzuziehen. Pankow ist als Hauptschlachtfeld auserkoren, mit 18 Prozent lag die PDS zuletzt bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus hier vorn. Aber in Parteikreisen ist Pankow nicht mehr die beste Wette.

Denn da gibt es ja noch Werner Schulz. Der 52-Jährige ist so etwas wie der Angstgegner der PDS. Wo andere ehemalige Bürgerrechtler zu langsam, zu nachdenklich, zu larmoyant für den Witz eines Gregor Gysi waren, ätzte Schulz immer ironisch zurück. Im Bundestag hat er – der einst nach einem Protest gegen den russischen Afghanistankrieg von der Humboldt-Uni geworfen wurde – der PDS ihren friedenspolitischen Auftritt gründlich versalzen. Und Schulz hat Erfahrung darin, Bündnisse gegen die PDS zu schmieden. „Erststimme SPD, Zweitstimme Grün“, riefen Persönlichkeiten der friedlichen Revolution wie Erich Loest und Friedrich Magirius in Leipzig auf, wo Schulz 1998 für den Bundestag kandidierte. Im vom Wendeherbst geprägten Leipzig reichte das, um die PDS zu verhindern.

„Aber in Berlin klappt so etwas nicht“, warnt Schulz. Hier ist das grüne Milieu weniger berechenbar. 1994 und 1998 gingen grüne Empfehlungen für Thierse nach hinten los. „Frau Brunner wartet doch nur darauf, sich als verfolgte Unschuld zu stilisieren“, prophezeit Schulz. Wolfgang Thierse setzt dennoch alle Hoffnungen auf den grünen Kollegen, der nicht wirklich ein Konkurrent ist: „Es ist nun einmal so: Die grünen Wähler entscheiden, wer diesen Wahlkreis gewinnt.“ Nur eine Woche vor der Wahl tritt Thierse in der Kulturbrauerei bei einer Veranstaltung von Schulz auf. Thema: „Rot-Grün: Vor der Entscheidung“. Kein Wink mit dem Zaunpfahl?

Schulz selbst gibt sich entspannt wie nie. Über den zweiten Listenplatz wird er auf jeden Fall wieder in den Bundestag einziehen. Anders als Thierse setzt er sich sogar mit der frechen Sozialistin auseinander. Im Kern seien junge PDSler doch „eine Mischung aus rot und grün, ohne eigene Substanz“. Warum sind sie dann in der PDS? „Das Blauhemd ging verloren, bevor man es selbst ausziehen konnte.“ Meint: Die DDR sei den jungen Leuten abhanden gekommen, bevor sie die Repression am eigenen Leib erfuhren. „Hätte es die DDR nur ein paar Jahre länger gegeben, wäre Sandra Brunner vielleicht beim Neuen Forum gelandet“, sagt Schulz nachdenklich. Und lacht plötzlich: „Ist aber trotzdem gut, dass die DDR diese Jahre nicht mehr hatte.“