Der Geruch der Erbprinzen

Drei Sozialdemokraten: Herbert, Günther und Marco aus dem Ruhrgebiet

Drei Sozialdemokraten. Der erste geht. Er hat eine schwarze Lederjacke aus Kunststoff an und abgewetzte Breitcordhosen. An der Hand trägt er eine nikotinbraune Aktentasche mit Schnappverschlüssen vorne. In der anderen Hand glimmt eine Zigarette, Marke HB oder Ernte 23. So, wie er da hergeht, geht er nur noch hier, im Ruhrgebiet. Er geht von Haus zu Haus, und im Haus geht er von Tür zu Tür. Wir schreiben das Jahr 2002, und die Häuser, in denen es für den ersten Sozialdemokraten noch einen Sinn ergibt, von Tür zu Tür zu gehen, werden weniger. Ja, früher, als die SPD noch aus Holz war, da hat er fast an jeder fünften Tür geklopft oder geklingelt, und es wurde ihm aufgemacht.

„Komm rein, Herbert. Schnäpschen?“, wurde er begrüßt, und Herbert kam rein, bekam ein Schnäpschen und kassierte dann den Beitrag. Herbert, der erste Sozialdemokrat, ist Kassierer der SPD-Ortsgruppe. Die Ortsgruppe ist kleiner geworden, und die meisten der weniger gewordenen Mitglieder zahlen ihre Beiträge bargeldlos. Wenn Herbert mal nicht mehr gehen kann, er ist schließlich nicht mehr der Jüngste, wird es kein anderer an seiner Stelle tun. Muss ja auch nicht.

Dann wird man Herbert vielleicht noch mal sehen, wenn er den Kollegen von der Ortsgruppe im Wahlkampf dabei zuguckt, wie sie die Plakate auf die Aufsteller kleben. In der Doppelgarage von Heinz. Da passen gut zwei, drei Tapeziertische rein – und dann immer drauf mit dem dicken Quast auf die Kandidaten. Das machen sie freitags abends, anschließend trinken sie einen Kasten Bier leer. Und samstags werden die Kandidaten dann aufgestellt oder aufgehängt, mit ’nem dicken Kopf.

Bestimmt guckt Herbert auch nochmal vorbei, wenn der DGB am 1. Mai auf dem Marktplatz seinen Traditionsbierstand mit „Pils eine Mark“ öffnet. Den Stand gibt es schon seit Ewigkeiten, und das Pils wird, solange es den DGB noch gibt, bestimmt auch weiterhin eine Mark kosten. Das Schild, auf dem der Traditionspreis steht, kann ja nicht auf Euro umgeschrieben werden, sonst wäre es ja kein Traditionsschild mehr.

Irgendwann wird Herbert dann das Zeitliche segnen. An seiner Beerdigung werden alle Mitglieder der Ortsgruppe teilnehmen und „Brüder zur Sonne“ singen. Die meisten werden nicht viel jünger sein als Herbert. Die feierliche Rede wird Günther halten.

Günther ist fast so alt wie Herbert und noch gut dabei. Er ist der zweite der drei Sozialdemokraten und hat es im Gegensatz zu seinem langjährigen Kassierer in der Partei weit gebracht. Günther war 30 Jahre lang Oberbürgermeister und hat erst damit aufgehört, als er es nicht mehr sein wollte. Niemals hätte es jemand gewagt, ihm diesen Posten streitig zu machen. Aus der eigenen Partei niemand, und aus der anderen auch nicht. Die waren ebenso einverstanden mit ihm wie seine eigenen Leute. Er hat ja auch immer für alle gesorgt. Wenn einer einen Posten brauchte, hat er immer einen gefunden, der einen kannte, der ihm einen gab. Er war ein gütiger Oberbürgermeister, und wenn man die Leute in der Stadt gefragt hätte, wollt ihr eine Monarchie haben und wer soll euer König sein, hätten alle geantwortet: Wir haben doch eine Monarchie, Günther ist König, und er soll es auch bleiben, solange er will.

Leider hat Günther vor seinem freiwilligen Abtritt nicht sorgfältig genug einen passenden Thronfolger ausgesucht. Der, den er ernannt hat, war Verwaltungsfachmann und roch überhaupt nicht nach Ruhrgebiets-SPD. Sogar die eigenen Leute siezten ihn, und selbst Herbert, der ihn tausendmal als Plakat auf die Aufsteller geklebt hatte, hat ihn nicht erkannt, als er ihm zufällig einmal auf der Straße begegnete. Beinahe hat man Günthers Erbprinzen dann nicht zum Oberbürgermeister gemacht, sondern den von der anderen Partei, die es ja hier bis dahin eigentlich gar nicht gegeben hat. Hier war es ja wie in Bayern gewesen, nur eben umgekehrt. In Bayern sind die Günthers bei der anderen Partei und heißen Hubert.

Der dritte Sozialdemokrat ist ganz anders als die ersten beiden. Er ist jung, dynamisch, kann Computer und hat schnell Journalismus, Betriebswirtschaft oder Jura studiert, bevor er sich über die Jusos in den Landtag gehievt hat. Bald wird er im Bundestag sitzen, weil sein Wahlkreis in der Stadt ist, in der Günther König und Herbert Kassierer war. Diesen Sozialdemokraten wird man sich nicht so gut merken können wie jene beiden. Er könnte genauso gut auch aus Niedersachsen stammen oder aus Hessen. Er ist 31 Jahre alt, heißt Oliver oder Marco oder Sven und hat jetzt schon ziemlich dünne Haare. FRITZ ECKENGA