Wo waren Sie am 11. September?

Auf einer Überlandreise mit dem Bus Richtung Indien rückt der Krieg plötzlich ganz nahe heran. Die Exotik des ehemaligen Hippie-Trail wirkt plötzlich nur noch bedrohlich. Eine Reise durch eine Region, in der Freiheit Privatsache ist und ein bisschen Freizügigkeit der Vergangenheit angehört

von MONIKA RECH

„Indien? Im Bus? Warum, um Himmels willen, fliegen Sie nicht?“ Für meine türkischen Begleiter sind schon die 52 Stunden, eingeklemmt in den voll gestopften Euroliner von Köln nach Istanbul, zu viel. Mir eigentlich auch.

11. August, Köln, Deutschland. Noch ist das meistgesagte Wort des Jahres 2001 unbekannt, „Derelfteseptember“ weit weg. Er ist weiter entfernt, als mein Weg von Köln nach Indien Kilometer zählt. Am 11. August, meinem lang ersehnten Startdatum, wabert die Langeweile der Sommerpause in der Luft. Es ist ein sonniger Tag, in dessen Kühle des frühen Morgens ich den Eurobus nehme. Route: Köln–Istanbul. Eiliger Kaffee im Stehen, letzte hektisch gerauchte Zigaretten, Ratschläge und Küsse zum Abschied. Ein paar Tränen.

Zweieinhalb Tage Busfahrt liegen vor mir. Durch die Türkei sprinte ich in zwei Wochen, vorbei an den historischen Stätten von Troja und Ephesos, weiter durch das Konya der tanzenden Derwische und der fliegenden Teppichhändler. Durch die archaischen Wohnstätten Kappadokiens zieht mich die Sehnsucht nach dem Fremden stetig weiter nach Osten. In Dogubajasit, der quälend langweiligen Grenzstadt zum Iran, stocke ich meine Reiseausrüstung auf. Wer dabei an Medikamente denkt oder an Kartenmaterial, hat weit gefehlt – Kopftuch und Mantel müssen her.

26. August – Iran. Noch an der Grenze erlebe ich das erste Mal das tiefe Gefühl von Fremdsein. Wonach ich mich daheim in Fernwehstimmung bei Kölsch und Zigaretten so manches Mal sehnte, das erscheint mir mit einem Mal gar nicht mehr so erstrebenswert. Einem Inuit aus den arktischen Regionen ginge es wahrscheinlich ähnlich, setzte man ihn in Kaiserslautern aus.

Die Grenzformalitäten ziehen sich in die Länge. Ich muss an die Wartezeiten bei guten Sportorthopäden denken und beruhige mich. An dieser Stelle würde ich gern einen Dialog bringen. Das lockert den Text auf und macht die Reportage lebendig. Doch was schreiben, wenn nicht geredet wird? Mit mir zu sprechen gibt sich jedenfalls niemand die Mühe. Okay, ich versuche, die Dialoge wiederzugeben. „Wie heißt sie?“ Kopfbewegung, auf mich deutend. Ansprechpartner meine männliche Begleitung. „Sie können auch mich fragen, wie ich heiße“, antworte ich lächelnd. „Wie heißt sie?“ Kopfbewegung, auf mich deutend. Ansprechpartner meine männliche Begleitung. „Monika Rech.“ Ein Blick in meinen Pass, ein mitleidiger Blick zu meinem Gegenüber, weil der seine Frau offensichtlich nicht im Griff hat. Ich koche vor Wut. Im Verlauf meiner Iran-Etappe gebe ich auf, mich immer und immer wieder als Gesprächspartner behaupten zu wollen. Auch jetzt resigniere ich – schließlich will ich rein in den Iran.

Die folgenden Wochen dehnen sich für mich unter meinem klebrigen Kostüm wie Weingummi. Es ist so heiß, dass die Stunde in 60 Minuten, in 3.600 Sekunden, zerbröselt. Wie die Millionen Scherben, in die eine Schaufensterscheibe zerbrechen kann. Ich dampfe. „Mein Kopftuch und der knöchellange Mumienmantel aus 100 Prozent Polyester schützen mich vor schädlichen UV-Strahlen“ – rede ich mir ein. Doch ich kann mich kaum betrügen – ich sitze im Bus durch die wüstenhafte Landschaft des Iran. Keine UV-Strahlen, dafür aber 40 Grad im Schatten. Nach Stunden um Stunden, die ich damit verbringe, mein Kopftuch zurechtzurücken, die wahnsinnigen Überholmanöver zu ignorieren und nur ja niemand anzuschauen, komme ich endlich in Täbris raus aus dem Hitzeschock.

Meine Gespräche mit Iranern laufen schleppend. Kaum zeigt jemand Interesse, sprintet von irgendwo ein Hilfssheriff herbei und mahnt, die Sittenwächter der Mullahs würden einem Geplauder nicht tatenlos zusehen. Schade. Nach nur drei Wochen unterwegs und einigen Tagen in diesem unwirtlichen Kulturraum fehlt mir das, was ich daheim im Überfluss habe und nicht im Geringsten zu schätzen wusste: Freiheit.

Erst in Esfahan – hunderte Kilometer Richtung Osten, etliche Busstunden und unzählige Selbstgespräche weiter – fühle ich mich wieder wohl. Auf dem Imam-Chomeini-Platz tobt das Leben. Pferdedroschken umrunden den Platz mit jungen Paaren im Gepäck. Eltern schicken ihre Kinder los, um die Fremden zu begrüßen. Man schießt Fotos – Arm in Arm mit der umhüllten Kuriosität aus dem fernen Westen. „Was wollen Sie hier? Sind Sie verheiratet? Kinder? Wie lernt man sich bei Ihnen kennen? Was machen Sie von Beruf?“, fragen sie mich. Endlich geschieht, worauf ich auf der langen Reise durch den Iran gewartet habe: Man redet mit mir. Iranische Deutschstudenten sind begierig, mir die Stadt zu zeigen und ihre Sprachkenntnisse unter Beweis zu stellen. Lieber heute als morgen wollen sie raus aus den engen Rastern des Iran.

Die Studenten zeigen mir den Basar, die verwinkelten Gassen der Altstadt und führen mich in die Parks der Stadt. Familien sitzen beim abendlichen Picknick. Unter der „Brücke der 33 Bögen“ tanzen Männer zu Klängen traditioneller Instrumente. „Polizei!“, ruft plötzlich jemand in die Dunkelheit. In einer Geschwindigkeit, in der ein Blitz in einen Baum einschlägt, sind alle verschwunden. Das Leben spielt sich im Verborgenen ab. Tanzen, wie ich gerade gelernt habe, ist verboten. Die vom herrschenden Regime erzwungene Strenge reizt zum Widerstand: Wir tanzen auf der Straße. Australier, Spanier, Japaner und Deutsche im kollektiven Aufstand gegen die aufgezwungene Tristesse.

Politische Gespräche sind völlig tabu. Das „Pschscht“ von Darius ist fast verräterischer als die Namen, die ich nenne. „Staatsgründer Chomeini …“ – „Seien Sie still!“ – „Präsident Mohammed Chatami …“ – „Kein Wort über ihn!“ Freiheit, so lerne ich, ist hier Privatsache. Erst hinter geschlossenen Mauern, im Familienkreis fallen die Fassaden. Nur dort fühlen sich die Menschen sicher vor den sonst allgegenwärtigen Lauschern.

An der Strenge des Apparats ändert sich nichts im Lauf der Iran-Etappe. Nicht in Jasd mit seinen märchenhaften Minaretten, einzigartigen Windtürmen und den unheimlichen „Türmen des Schweigens“, der verwunschenen Totenstätte aus zoroastrischer Epoche. Einem Ort erstklassiger Entsorgung der Kadaver, die Vögel erledigten.

Es ändert sich nichts in Schiras, das heute als Stadt der Rosen und Poeten bekannt ist. Jahrhundertelang hieß die Hauptstadt der Provinz Fars die „Stadt des Weines“. Seit der islamischen Revolution 1979 gehört auch diese Freizügigkeit der Vergangenheit an.

Es ändert sich auch nichts in Bam. Die Wüste Kavir hat die verlassene tönerne Altstadt aufgefressen. Verzehrt und verdorrt bis auf ihre Grundmauern. Bam ist meine letzte Station im Iran.

Der Sturm des Zeitenwechsels bricht los. Beim Zu-Bett-Gehen lotsen uns Japaner wild gestikulierend vor den Fernseher. Es bricht ein. Immer und immer wieder fliegen Passagiermaschinen in die Zwillingstürme des World Trade Center. Vor unseren Augen zerbirst das Bauwerk, das für die Ewigkeit gemacht zu sein schien. Das die Zentrale der globalisierten Wirtschaftswelt beherbergte, auf dessen Dächern ich Fotos von Timm mit seinem Liebsten geschossen hatte. Wir alle stehen fassungslos vor den Fernsehbildern, die die Trümmer einer vergangenen Epoche in einer Endlosschleife präsentieren. In den sich ständig wiederholenden Bildern sehen wir einen Krieg heraufziehen. „Die Amis, sie mussten mal eins draufkriegen“, jubeln halbstarke iranische Jungs.

Wir sitzen in der Klemme. Der Weg nach Osten, durch Pakistan, ist ungewiss. Die Strecke zurück durch den Iran die letzte Option. Ab diesem Augenblick, der für 3.000 Menschen der letzte ihres Lebens sein sollte und der die Welt in den ersten „Krieg gegen den Terror“ des neuen Jahrtausends führte, wurde aus dem losen Haufen herumziehender Rucksacktouristen eine verschworene Gemeinschaft. Unser Lebensmittelpunkt war eine Kiste mit den Maßen zehn mal zwanzig mal vier Zentimeter: ein Weltempfänger.

„Ussama Bin Laden, Ussama Bin Laden, Ussama Bin Laden.“ Der Name des derzeit wohl meistgesuchten Terroristen der Welt dröhnt blechern über den Äther. Gebannt verfolgen wir, wie sich in kürzester Zeit die Urheber des Attentats lokalisieren lassen. Wir sind nahe dran. Näher, als uns lieb ist. George W. Bush droht in alle Richtungen: Afghanistan, Pakistan, Iran. Die „Achse des Bösen“ ist geboren. Nichts scheint unmöglich. Alle sind gleich verdächtig. Die Entscheidung über „Weiter, zurück oder bleiben?“ fällt in der Nacht: Abwarten, was passiert. Einen Tag noch warten wir in Bam ab, wie sich die Lage entwickelt. Dann läuft das Visum ab. Ob wir wollen oder nicht, Pakistan ruft.

13. September, auf dem Weg nach Quetta, Pakistan. Nur zwei Tage später setzen wir uns in Bewegung. Doch aus den geplanten drei Wochen in Pakistan, Bergsteigen am Nanga Parbat und Cruisen am Khyberpass, dem höchsten Gebirgspass weltweit, wird nichts. Vier Tage, zwei Städte und 2.000 Kilometer im Zug werden zu meiner Pakistan-Gesamtbilanz. In Quetta, wo schon wenig später amerikanische Bomber starten werden, herrscht Ruhe. Bis hierher ist die näher rückende Kriegsdrohung noch nicht gedrungen. „Dir passiert hier nichts“, höre ich im Internetcafé. „Nichts wie weg da!“, lese ich in meinem Mails von Freunden.

Während die Menschen Datteln verkaufen, genüsslich Tee trinken und die verrücktesten Busfahrer die schillerndsten Busse der Welt über die Straßen peitschen, lauschen wir den News der Deutschen Welle und der BBC. Der Zug nach Lahore fährt erst am nächsten Nachmittag. Ein weiterer Tag im Westen Pakistans steht bevor. „Wo verstecken die ihre Frauen?“, frage ich mich nicht zum ersten Mal. Akbar, der iranische Besitzer des kleinen Hotels in Bam, hatte die Atmosphäre auf Quettas Straßen in einen Scherz gekleidet: „Ich werde mich hüten, nach Pakistan zu reisen. Da werfen sich einem ja auf der Straße die Frauen an den Hals“, lachte er lauthals, bevor wir losfuhren. Ich hatte den Witz schlichtweg nicht verstanden. Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Da gibt es gar keine Frauen.“

Als weit und breit einziges weibliches Wesen auf der Straße geht es sich einsam. Sehr einsam. Und meine Anwesenheit scheint nicht jedem zu gefallen. Nachdem mir bei einem kurzen abendlichen Alleingang über die Straße drei undurchdringlich blickende Gestalten folgen, habe ich vor allem eins: Angst. Und ich will nur noch eines: weg.

Gemächlich zuckelt der Zug Kilometer für Kilometer gen Lahore. Unsere Mitreisenden sind neugierig, was wir die ganze Zeit mit dem Plastikding, das an unsere Ohren geschraubt zu sein scheint, tun. Wir kleben an den Informationen über die Rückschlagsvorbereitungen der Amerikaner. Warnungen an Reisende in Pakistan werden ausgesprochen. Doch der Weg zur indischen Grenze ist noch weit. Aus der Wüste Belutschistans bis in die fruchtbaren Tiefebenen des Industals dauerte es zwei Tage, unzählige Chais, die klebrig süßen Tees, reichlich Chapati mit Linsen und jede Menge Sorgen und Gedanken.

In Lahore ist an touristisches Herumstöbern nicht mehr zu denken. In nur zwei Tagen hat sich die Stimmung aggressiv aufgeladen. In Islamabad finden sich die ersten Islamisten zu antiamerikanischen Demonstrationen zusammen. Hier versucht niemand mehr, uns in Sicherheit zu wiegen. Wir sollen raus. Das ist besser für uns und für alle anderen, rät uns ein Passant. Die Grenze nach Amritsar hat sich in eine halb durchlässige Membran verwandelt. Einen Strom von Touristen zieht es in die indische Sicherheit. Der Buchhändler an der Grenze klagt über einbrechende Umsätze. Ich biete ihm einen Pakistan-Reiseführer. Mit einem Schulterzucken weist er auf die überquellende Kiste: „Wie soll ich die jemals wieder loswerden! Es wird doch kein Tourist mehr nach Pakistan kommen.“ Schon ein paar Tage später ist die Grenze offiziell geschlossen und der Buchhändler arbeitslos.

17. September, Amritsar, Indien. Gerettet. Genau so fühle ich mich: gerettet. Indien ist plötzlich das Paradies. Ziel einer Reise, die ohne konkretes Ziel gestartet war. Nie war ich einem heraufziehenden Krieg so nah. Nie habe ich die gläserne Glocke aus Fernsehbildern und Zeitungsbeiträgen so weit verlassen. In Amritsar gehe ich in den Goldenen Tempel, finde das erste Mal Ruhe in der offenen Gelassenheit der pilgernden Sikhs.

Ein Teil der Reise ist vorüber. Er hat mich mich fremd fühlen lassen, mir das Wort „Angst“ buchstabiert und mich den Begriff des Krieges verstehen gelehrt. Ich war nahe dran. Näher, als mir lieb war.